Was nimmst du mit?
Auf den ersten Blick handelt es sich bei diesem Beitrag um ein alltägliches Thema wie Kofferpacken. Doch durch diese Metapher versucht Elisabeth Sacharov eine wichtige Botschaft zu vermitteln: Alle Migrant*innen haben viel gemeinsam, aber bringen genauso viele unterschiedliche Perspektiven, Erfahrungen sowie traumatischen Erfahrungen mit. Dies sollte allerdings kein Problem darstellen, sondern den Austausch sowie gegenseitiges Empowerment anregen.
Sie reichte mir eine Tasse Tee und ich glaube, ich habe sie noch nie so strahlend gesehen, wie an diesem sonnigen Ostermontag. Lag das wohl an ihrer schneeweißen Tracht, mit der sie so schön aussah? Aber genauer gesagt, lag es an der Geschichte, die das gestrickte Hemd mit sich trug. Dieses Hemd nennt sich übrigens Wyschywanka und ist mit der ukrainischen Kultur unzertrennlich verbunden: Es wird den Neugeborenen angezogen, an Feiertagen getragen und damit wird sogar der letzte Abschied von einem Menschen genommen. Für Olga war das Hemd auch von großer Bedeutung. Sie erzählte mir, dass die Wyschywanka, die sie gerade anhatte, von ihrer Urgroßmutter von Hand genäht wurde und dass sie sehr glücklich sei, diese wieder bei sich zu haben. Denn als sie mit ihrem Sohn vor einem halben Jahr nach Deutschland geflüchtet sei, konnte sie das Kleidungsstück nicht mitnehmen. Im Rucksack gebe es kein Platz mehr. Das habe sie im Nachhinein sehr betrübt.
Ich schaue mir die roten Strickmuster an und versinke in meinen Gedanken. Ich kann mir gar nicht ausmalen wie schrecklich es ist, unter den heulenden Sirenen das Nötigste zu packen und versuchen dabei den klaren Verstand zu bewahren. Was ich aber ganz genau nachempfinden kann, ist das Gefühl von Fassungslosigkeit, wenn man umgeben von tausenden Gegenständen vor dem offenen Koffer steht. „Was davon nehme ich denn mit?“ Den Reisepass, die Geburtsurkunde, Zeugnisse, anderer Papierkram. Medikamente, die Zahnbürste, das Shampoo. Etwas zum Anziehen, wenn es warm wird, vielleicht auch paar Jacken und Schuhe, wäre gar nicht so verkehrt. Die Tasche wird langsam voll, aber es passen noch paar Sachen rein. Und was ist mit dem Rest? Verkaufen? Verschenken? Einfach vergessen?
Doch es gibt noch ein anderes Gepäck. Bei diesem Gepäck kann man nicht entscheiden, was man mitnimmt und was man zurücklässt. Wir tragen es, unabhängig davon, wo wir hingehen, ob wir es wollen oder nicht. In diesem riesigen Koffer sind unsere Vergangenheit und unsere Zukunftsaussichten, Rückschläge und Erfolgserlebnisse, Ohnmacht und Kraft. Man kann nicht beurteilen, wessen Koffer schwerer zu tragen ist. Denn bei jedem sieht das Gepäck anders aus. Unsere Schicksale, unsere Erfahrungen und unsere Schmerzen unterscheiden sich drastisch. Doch merkwürdigerweise ist dieses Gepäck genau das, was uns alle miteinander verbindet. Und anstatt zu vergleichen, wessen Bürde größer ist, sollen wir einfach lernen, uns gegenseitig zu helfen. Und wenn man sieht, dass jemand friert, sollte man einfach einen warmen Pullover auspacken, anstatt zu fragen warum derjenige nichts dabei hat.
Während Olga und ich unseren Tee trinken, kommen wir zum Schluss, dass die meisten materiellen Dinge, die man mitnimmt, gar nicht so wichtig sind wie man es vielleicht behauptet. Eines Tages hat man alles, dann auf einmal gar nichts mehr und später hat man es wieder. Das Einzige, was für immer bleibt sind unsere Gefühle, die wir mit den konkreten Gegenständen verbinden.
Ich schaue mir die Teetasse an. Plötzlich fällt mir auf, dass ich die kleinen Porzellantassen von meiner Oma sehr vermisse. Ich würde sie gerne mitnehmen, wenn ich wieder zu Besuch in meiner alten Heimat bin. Und du? Was nimmst du mit?