Kathrin Lind
Kathrins ‚Visual Essay‘ ist ein Versuch, gedanklich in die bewegte Migrationsgeschichte der Russlanddeutschen einzutauchen. Diese Geschichte, in einem Fotoalbum verewigt, stellt sowohl sichtbare familiäre Momente als auch die unausgesprochene dazugehörige Geschichte der sowjetischen Repressionen dar. Es lädt dazu ein, einzutauchen und die Nachvollzierbarkeit für die Nachfahren zu erörtern.
Der Beitrag ist eine naive Auseinandersetzung mit der Thematik der persönlichen Erinnerungsorte der Russlanddeutschen-Geschichte, am Beispiel eines Fotoalbums der Familie der Autorin.
Dabei wird einerseits die Bedeutsamkeit eines Erinnerungsortes, der mitgenommen werden kann, betont, da es für diese Menschengruppe oft keinen festen topografischen Ort als Erinnerungsort gibt, dafür dienen Fotos aber oft als mobile Erinnerungsorte. Diese beherbergen in sich zwar meist die Familientreffen und -feiern, offenbaren auf den zweiten Blick aber auch die Orte und Geschichte der Repressionen.
Andererseits wird veranschaulicht, wie leicht sich die historischen Zusammenhänge der Fotos in Familienalben verlieren können, wenn sie nicht von Erzählungen begleitet oder verschriftlicht werden.
Omas Fotoalbum. Mobiler Erinnerungsort, den Repressionen zum Trotz
Wieso soll ein Fotobuch, voller alter Fotos von Menschen, die du nicht kennst wichtig sein?
Was ist aber, wenn dieses Fotobuch die einzige greifbare Verbindung nicht nur zu deiner Familiengeschichte, sondern auch zu all den Verwandten, von denen dich das Leben weggerissen hat, ist?
Und was ist, wenn das Buch auch die Geschichte erzählt, über die, in der Familie sonst nicht gerne gesprochen wird?
Das Buch mit der Rose drauf, ist genau das für mich – ein Fotoalbum meiner Oma, in dem ich seit klein auf, mit meiner Mutter drin geblättert habe und mir erzählen ließ, wer wie mit mir verwand ist, wo sie auf den Fotos gewesen sein mussten und wo sie heute sind. Getroffen habe ich davon kaum jemanden. Auch meine Oma nicht.
Und mit jedem Jahr konnte ich dem Album, dank den Erzählungen meiner Mutter, immer mehr Informationen entnehmen. Dies half dabei, die Geschichten der einzelnen Personen und vor allem die Geschichte meiner Großmutter, mir besser ausmalen zu können. Glücklicherweise war meine Mutter ein neugieriges Kind und hat den Erwachsenen immer viele Fragen gestellt, wodurch sie mir nun auch was nacherzählen kann.
Meine Großmutter – Agnes Haag, gehörte zu der dritten Generation der Familie Haag, Aussiedlerinnen und Aussiedler aus Baden, die in den nördlichen Schwarzmeergebieten der heutigen Ukraine zur Welt kam.
Ihre frühe Kindheit war begleitet vom Bürgerkrieg, Enteignungen, Hungersnot und dem Verlust ihres Vaters an Typhus. Dennoch bezeichnete sie, in den Erinnerungen meiner Mutter, die Zeit in der Ukraine und die Jahre mit ihrem Mann danach als die glücklichsten Jahre ihres Lebens.
Im Herbst 1941 wurde sie mit ihrer Familie nach Kasachstan deportiert, weil sie Deutsche waren. Im Frühling 1943 wurde sie vom Rest der Familie getrennt und als junge, kinderlose Frau in die Trudarmee nach Komi, UdSSR transportiert. Dort musste sie verschiedene Arbeit – von Feldarbeit über Tabaksortierung, bis hin zum Bergbau – verrichten.
An all diese Ereignisse erinnern wir uns größtenteils anhand der mündlichen Überlieferung meiner Mutter, die sie von ihrer Mutter und ihren Tanten und Cousinen und Cousins erzählt bekommen hat. Wenn es vorher schon Bilder oder gar Alben der Familie gegeben hat, sind sie während der Deportationen verloren gegangen. Agnes hat aber ein eigenes Fotoalbum angelegt, das die darauffolgenden Phasen ihres Lebens veranschaulichen kann.
Ich wusste schon immer, dass das Album recht alt sein muss, habe aber nie realisiert, dass die jüngsten Fotos des Albums bereits aus der zweiten Hälfte der 1940er Jahre stammen und somit in der Trudarmee aufgenommen wurden.
Auf den 21 Seiten des Albums fand ich eine Ansammlung aus Fotos, die nicht nur in den zahlreichen Fotofächern, sondern auch lose reingelegt waren und weder eine chronologische Abfolge noch Beschriftungen hatten.
Wenn Fotos beschriftet waren, wurde es mit der Handschrift meiner Mutter, die Angst hatte etwas zu vergessen, nachträglich gemacht. Meine Großmutter hatte wohl eher Angst, jemanden daran zu erinnern, dass all die abgebildeten Menschen repressiert waren. Und die Männer, Frauen und Kinder, die ich nur als solche auf den Bildern gesehen habe, waren an den Orten der frühen Fotografien mit feindlichen Bezeichnungen des Regimes belegt – Deutsche, ukrainische „Volksfeinde“, kasachische „Kulaken“, Kinder der „Volksfeinde“. Verschriftlichungen waren für diese Menschen wohl gefährlich.
Manche der Fotos konnten auch durch meine Mutter nicht direkt einem Jahr oder Ort zugeordnet werden.
Das früheste Bild des Albums konnte durch die Angabe der wiedergefundenen entfernten Verwandten zugeordnet werden, die sich auch um die Wiederherstellung der Familiengeschichte bemühten.
Eines Tages erhielt meine Mutter einen Anruf von einer Frau, die glaubte, dass sie verwandt sein könnten. Und nach stundenlangen Abgleichen der bekannten Namen und Daten, fanden sie heraus, dass ihre Mütter Cousinen waren und konnten füreinander die jeweils fehlenden Punkte in der Familiengeschichte und den Stammbäumen vervollständigen.
Als meine Mutter dann ein Foto aus dem Album in Kopie an die Familie geschickt hat, hat die Cousine von Agnes – Katharina – das Foto auch einordnen können und bestätigt, dass es in der Trudarmee aufgenommen wurde.
Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr Fragen tauchen für mich auf: Wieso gab es im Lager einen Fotografen und in welchem Kontext und mit wessen Erlaubnis wurden all diese Fotos aufgenommen? Konnten die Fotos irgendwo angebracht werden oder mussten versteckt werden? Wie wurden die Fotografen entlohnt? Gab es im Lager einen festen Ort, wo die Fotos entwickelt werden konnten oder passierte es außerhalb? Haben die Menschen im Lager die Aufnahmen machen lassen, um zu erinnern oder um zu vergessen? All diese Fragen bleiben wohl erstmal unbeantwortet.
Andere Fragen können mir glücklicherweise in langen Gesprächen mit meiner Mama beantwortet oder gemeinsam rekonstruiert werden. Zu der Nachfrage, wieso sie denn das Album so gut beschreiben kann, sagte meine Mutter: „Ich kenn es [das Album] insgesamt seitdem ich denken kann und da wir weder einen Fernseher, noch Radio hatten, war meine einzige Unterhaltung [in der Kindheit] das Durchschauen von Mamas Album“.
Was wäre für mich das Album ohne diese ganzen Erzählungen und kann man die unbeschriebenen Erinnerungsorte genauso nachvollziehen?
Wäre es für mich möglich, ein Familienfoto meiner Großmutter neben irgendeinem Haus zu betrachten und zu verstehen, dass es auf den Brettern der im Sommer tauenden Permafrostböden, in Komi aufgenommen wurde? Könnte ich wissen, dass das Jahr der Aufnahme 1953 sein müsste und die Familie sich in einer Sondersiedlung für ehemalige Lagerarbeiter befindet? Würde ich selbst draufkommen, dass das glückliche Paar sich im Lager kennengelernt hat und die älteren Brüder meiner Mama Gulag-Kinder sind, die von ihrem eigenen Vater später erst adoptiert werden mussten, da im stalinistischen Terror die „Volksfeinde“ theoretisch keine Kinder bekommen durften? Auch die Tatsache, dass die Familie an dem Ort verblieb, weil sie unter dem Kommandanturregime bis Ende 1955 nicht reisen durfte, wäre mir wahrscheinlich verborgen geblieben. Und auch, dass mein Großvater bald nach der Geburt meiner Mutter verstarb und Agnes mit drei Kindern zu ihren Schwestern nach Kasachstan zog, erzählt diese Momentaufnahme nicht.
Und doch ist es alles vorhanden – die Lebensorte nach Deportationen, Aufnahmen der Familienfeiern mit Tannenbäumen und gedeckten Tischen, Wiedervereinigungen und Familienzusammenkünfte nach Trauerfällen und sogar Integration der Freunde in die Familienaufnahmen. Einzelfotos von Agnes, die über die Jahre aufgenommen wurden und auch von ihren Nichten und Neffen zur Erinnerung.
Alles wurde in dem Album gesammelt zu einer stillen Dokumentation der Normalität in den ungewöhnlichen Umständen.
Hinzu kommen handgeschriebene Gebetszettel und Fotos, die Oma vermutlich von Bekannten geschickt bekommen hat, da diese Menschen bis jetzt durch niemanden aus der Familie eingeordnet werden konnten. Klar ist nur, dass die ebenso von Schicksal der Deportation und der Arbeitslager betroffen waren.
Dieses Familienalbum ist ein Erinnerungsort, ein Vermittlungsort und ein Ort der stillen Dokumentation des Deportationsschicksals einer von vielen deportierten deutschen Familien in der Sowjetunion. Gleichzeitig teilte das Album das Migrationsschicksal der Kleinfamilie und wanderte aus der Kälte der Komi Republik über die Steppen von Kasachstan in den sonnigen Kaukasus, bevor es schlussendlich nach Deutschland kommen konnte.
Agnes hat es nicht nach Deutschland geschafft auch wenn sie es sich sehr gewünscht hat. Sie ist 1983 in Krasnodar verstorben, noch bevor sie offiziell rehabilitiert werden konnte. Und bevor ich geboren wurde.
Ihre Erinnerungen nahmen wir aber mit nach Deutschland.
Als Album mit der Ansammlung der Fotos aus verschiedenen Ecken der Sowjetunion, Gebeten, Postkarten, Tickets und allem, was sonst seinen Weg ins Album gefunden hat, dank meiner Oma. Bilder und Dinge, die Erinnerungen wecken und Nachfahren zum Nachdenken animieren.
Und als Geschichten, die meine Mutter mir erzählte und welche ich nun unbedingt verschriftlichen muss. Denn Verschriftlichungen der einzelnen Geschichten sind wichtige Bestandteile der Albumerinnerungen, besonders wenn ihre Besitzer keine hinterlassen konnten.