Hoffnung im Gepäck – Die Familienbibel meiner Großmutter

Tatjana Baal

Tatjana Baal

Meine Brücke in die Vergangenheit: Die Bibel, durch die ich meine Großmutter kennenlernte.

In ihrem Essay begibt sich Tatjana Baal auf Spurensuche in der eigenen Familiengeschichte. Ausgangspunkt für ihre Nachforschung ist die Familienbibel ihrer Großmutter. Im Dialog mit ihrer Mutter zeichnet sie das Leben und vor allem die Repressionen, die ihre Großmutter als Deutsche in der Sowjetunion erlitt und deren Spätfolgen nach. Dabei stellt sich die Frage: Wie haben Menschen das Leid überlebt? Was gab Ihnen Kraft und Hoffnung? Anhand der Geschichte ihrer Großmutter veranschaulicht sie exemplarisch, welche Rolle dabei dem Glauben zukommt.

Hoffnung im Gepäck - Die Familienbibel meiner Großmutter

Ich musste mich früher auf Zehenspitzen stellen, um sie zu sehen. Offen zugänglich lag sie da, immer am gleichen Platz. Ich nutzte sie nicht aktiv, es war mehr ein Fall von „gucken, nicht anfassen“. Doch je älter ich wurde, desto häufiger fiel mein Blick auf dieses alte Buch. Die Familienbibel meiner Oma.

Wenn ich Omas Bibel heute in den Händen halte, bekomme ich eine Ahnung davon, welche Reise sie hinter sich hat. Die vergilbten Seiten drohen sich vom Buchrücken zu lösen. Die abgeriebenen Ränder des Einbands.

Ich habe meine Oma nie kennengelernt. Ich kam am 07.03.1993 in Deutschland zur Welt, Sie verstarb am 30.06.1993, wenige Monate später.

Je mehr ich über die Geschichte der Russlanddeutschen lernte, desto mehr stellte sich die Frage: Wie genau war es bei meiner Oma? Lange wusste ich nur, dass sie gläubig war – die abgegriffene Bibel in meinen Händen der Beweis. Dass sie, weil sie Deutsche war, während des Krieges im Arbeitslager war. Dass sie früh krank wurde und meine Mutter daher früh begann sie zu pflegen. Dass sie ihr Schicksal mit solch einer Würde und Stärke trug – die angesichts ihres Leids kaum zu begreifen war. Dass diese Stärke in ihrem tiefen Glauben wurzelte.

Es wuchs das Bedürfnis, mehr zu erfahren; über ihr Leben, das meiner Mutter. Und meine Familiengeschichte – als Teil der russlanddeutschen Geschichte – besser zu verstehen. Es ist, als hafte die Geschichte der Bibel an. Sie macht Vergangenes symbolisch sichtbar, Unbegreifliches greifbar und holt Vergessenes zurück. Jahre haben Spuren auf ihr hinterlassen. Diese Spuren möchte ich im Dialog mit meiner Mutter nachverfolgen.

 

Kindheit und Jugend

1921. Am 30. Dezember wird Maria Beck in der Wolgarepublik geboren. Sie lebt mit ihren Eltern und fünf Geschwistern in dem kleinen deutschen Ort Kurnava, Oblast Saratow. Die gesamte Familie lebt in bescheidenem Wohlstand mit mehreren Generationen in einem Haus. Sie führt ein frommes Leben. Der protestantische Glaube bildet das Herz der familiären und dörflichen Gemeinschaft. Ihre frühe Kindheit ist unbeschwert.

Haus in Kurnawa

Im Jahr 1931 ändert sich die Lage. Stalins Kollektivierung erreicht die Wolgarepublik und sorgt für Angst, Hunger und Schrecken. Die Familie erkennt, dass Widerstand gegen die Maßnahmen sinnlos ist. Um nicht deportiert zu werden, schließen sie sich dem Kolchos an. Diese Jahre der konstanten Bedrohung und Angst prägen die zehnjährige Maria dauerhaft.

Insgesamt kommt Omas Familie vergleichsweise glimpflich davon. Nach dem Beitritt zum Kolchos beruhigt sich die Situation. In den folgenden Jahren leistet Oma schwere Arbeit, dennoch erlebt sie eine glückliche Jugend.

Deportation

Oma ist 19 Jahre alt, als Deutschland im Juni 1941 die UdSSR überfällt und damit auch hier der Zweite Weltkrieg ausbricht. Man hatte sich im Dorf bereits Sorgen gemacht, was mit den Sowjetdeutschen geschehe, wenn Nazi-Deutschland angreift. Viele Männer dienen zu dem Zeitpunkt bereits in der Roten Armee und kommen direkt an die Front. So auch Omas damalige Jugendliebe. Ihn wird sie erst Jahre später wiedersehen.

Es gehen Gerüchte um, dass die Sowjetdeutschen weg sollen. Aus der Befürchtung wird tragische Realität: „und dann wurde im September offiziell gesagt, dass sie ein paar Tage Zeit haben sich mit Handgepäck fertig zu machen“. Dieses bestand aus etwas Kleidung, Lebensmitteln und – der Bibel.

Von nun an begann ein langer Überlebenskampf. Das Ausmaß des Schreckens der Deportation ist kaum zu begreifen.

Deportationsschein

Omas Familie wird in das Gebiet Omsk deportiert. Sie werden in Viehwaggons eingepfercht. In den ersten Tagen geraten sie unter Beschuss deutscher Bomber, bis sie sich von der Front entfernen. Die Züge stehen teilweise tage-, gar wochenlang, weil Frontzügen Vorfahrt gewährt wird. Schnell ist das bisschen Proviant verbraucht.

Neben Hunger verschlechterte sich die Hygiene. Es gab keine Toiletten und keine Waschmöglichkeiten: „aus irgendwelchen Lappen oder wenn jemand eine Decke hatte, haben sie probiert, so eine kleine Ecke zu machen, wo man ungestört oder ungesehen sein konnte.“ Das Fehlen jeglicher Privatsphäre stellte eine enorme psychische Belastung dar.

Auch die Grausamkeit und Willkür der Wachen hinterlassen seelische Wunden.

Hinzu kommt die Kälte: „Die kamen irgendwann im November da an. Und November ist in Russland, in Sibirien schon ordentlich kalt.“

Zwei Monate dauert diese Odyssee. Angesichts der menschenunwürdigen Verhältnisse erkranken und sterben viele.

Wie durch ein Wunder bleibt Omas gesamte Familie am Leben und beieinander:

„[sie] kamen zwar krank da an, mit Erkältungen, mit anderen Problemen. Aber sie waren am Leben.“

Arbeitslager

Angekommen in Barwenawka, einem Dorf, 170 km entfernt von Omsk, wird die Familie auf engstem Raum – 15 Menschen auf ca. 40qm – untergebracht. Doch alles was zählt ist überlebt zu haben. Nach den Strapazen der Reise „waren sie froh darüber, dass wenigstens ein Ofen da war. Man konnte heizen und das war schon viel wert zu der Zeit.“ Man unterlag einer strengen Meldepflicht und durfte sich nur geringfügig von dem Ort entfernen. Nur zwei Monate Zeit hat meine Oma, um etwas zu Kräften zu kommen. Sie und ihre kleine Schwester Emma, 16 Jahre alt, werden im Januar 1942 in die Arbeitsarmee einberufen, weil sie Deutsche sind.

Ihre zwei größten Feinde hießen erneut Hunger und Kälte. Sie und ihre Schwester kamen in ein Lager in Omsk. Zur Zwangsarbeit waren es oft einige Kilometer Fußmarsch hin und zurück. Sie schliefen in undichten Baracken, die kaum Schutz vor Nässe und Kälte boten. Nasse Arbeitskleidung trocknete nicht und musste am nächsten Morgen wieder nass angezogen werden.

Einmal in der Woche durften sie die Banja besuchen, ein Ort, wo man sich waschen konnte und es warmes Wasser gab. In der Theorie gab es einen Arzt. Der habe sie jedoch nicht als krank angesehen, sondern als faul. Hinzu kam die allgegenwärtige Gefahr sexualisierter Gewalt.

„Wenn [da] eine hübsche Frau war und irgendwelche Aufseher irgendwas wollte, da wurde nicht großartig gefragt.“

Unter diesen Bedingungen musste über Jahre Schwerstarbeit geleistet werden. Unterernährung, fehlende Hygiene und Erschöpfung führten zu Krankheiten. Viele kamen nie aus dem Lager zurück. Oma und Emma überlebten.

Das Leben danach

15 Jahre verbringt Oma in der Arbeitsarmee. Nach Stalins Tod 1953 verbessern sich die Bedingungen im Lager etwas. Doch als Deutsche untersteht Oma einer Meldepflicht und darf Omsk nicht verlassen. Erst 1956 endet die Kommandantur.

Sie ist 35 Jahre alt, als sie zu ihrer Familie nach Barwenawka zurückkehren darf. Dort trifft sie auch ihre Jugendliebe Iwan. Auch er überlebte. Bei ihrem Wiedersehen hatte Oma bereits ihren 1954 geborenen Sohn Wladimir. Iwan war geschieden und hatte seinen Sohn aus erster Ehe verloren.

Als beide wieder in Barwenawka sind, geht alles ganz schnell. Noch im selben Jahr wird geheiratet. 1958 wird Alexander geboren. 1960 ziehen sie nach Poltawka. Im selben Jahr kommt Andreas, 1961 Olga und 1963 kommt Lydia, meine Mama zur Welt. 1966 noch ihr Bruder Viktor. Das Leben geht weiter.

„Man hatte das Gefühl, wenn man zurückdenkt, dass die Natur zurückholen wollte, was quasi verloren war in den ganzen Jahren.“

Familienfoto

Die Familie lebt mit ihren „Haustieren“ – Kühe, Schafe, Schweine und Hühner – als Selbstversorger ein vergleichsweise unbeschwertes Leben. Mit der vorwiegend russischen Nachbarschaft verstehen sie sich gut, auch materiell mangelt es ihnen an nichts Wesentlichem. Der Lebensstandard verbessert sich langsam.

„Wir hatten eigentlich eine gute Kindheit. Wir mussten zwar auch viel mithelfen – im Garten oder auch die Tiere versorgen – aber trotzdem hatten wir eine sehr gute Kindheit. Bis zu dem Zeitpunkt, wo meine Mama krank wurde. Und da war es vorbei mit Kindheit und mit gutem Leben.“

Krankheit

1975 wird Oma krank. Sie ist zunehmend eingeschränkt in ihrem Bewegungsvermögen, hat chronische Schmerzen und ist auf Pflege angewiesen. Mama ist zu dem Zeitpunkt gerade mal zwölf Jahre alt und plötzlich für ihre Mutter (mit-)verantwortlich. In den ersten zwei Jahren der Krankheit kann Oma noch kleine Aufgaben im Haushalt übernehmen, gelegentlich kochen und die anfallenden Arbeiten koordinieren.

Doch ihr Zustand verschlimmert sich. Nach einem Haushaltsunfall 1977 kann sie nicht mehr gehen. Ende 1980 erleidet sie vermutlich eine Art Schlaganfall; „das wurde damals nicht ärztlich geklärt, sie war pensioniert und das interessierte auch niemanden. Hausbesuche von Ärzten waren nicht üblich.“

Opa wendet sich dem Alkohol zu und ist keine Unterstützung.

Woraus schöpft man Kraft und Hoffnung? Was gibt einem Halt in Zeiten unermesslichen Leids?

Glaube

Seit Mama sich erinnern kann, durchdringt der Glaube ganz selbstverständlich, fast beiläufig, den familiären Alltag. So wie Oma es kennt, führt sie den Glauben in ihrer Familie fort: regelmäßig wird gebetet, aus der Bibel vorgelesen. Der Sonntag ist heilig: bis auf das Nötigste darf keinerlei Arbeit verrichtet werden. Deutsche Kirchengesänge bilden die Melodie von Mamas Kindheit:

 „[Oma] konnte unwahrscheinlich schön singen und sie hatte immer diese göttlichen Lieder gesungen. Ich bin aufgewachsen, das war für mich wie Radio.“

Die Kinder werden heimlich getauft. Da Religion in der Sowjetunion offiziell verboten ist, fahren sie dafür mit der Pferdekutsche in das 70 km entfernte Issilkul, wo es einen Mann gibt, der die Kinder taufen kann. Es wird nicht darüber geredet, aus Angst, die Kinder könnten sich verplappern.

Da es keine offiziellen Gebetshäuser gibt, treffen sich manche Menschen heimlich, um gemeinsam ihren Glauben zu praktizieren. Werden sie erwischt, drohen ihnen Gefängnisstrafen und sozialer Ausschluss. Oma geht nicht zu solchen Treffen.

Während Mama den Glauben ihrer Mutter als Kind unhinterfragt mit(er-)lebt, beginnt mit Omas Erkrankung eine bewusstere Auseinandersetzung. Je größer die Herausforderungen werden, desto mehr wendet auch Mama sich an Gott:

 „Das war für mich unwahrscheinlich schwer. Wenn ich sie behandeln und mich zusammenreißen musste, um nicht zu zeigen, dass es mir unwahrscheinlich wehtut oder nicht in Tränen auszubrechen. Und gerade in solchen Momenten habe ich oft gedacht: Lieber Gott, bitte gib mir Kraft, dass ich nicht zusammenbreche, dass ich das durchstehe – dass sie das nicht mitkriegt, wie schlimm es war.“

Den Glauben, der Oma Deportation und Arbeitslager überstehen und auch ihre Krankheit mit Würde ertragen lässt, gibt Oma weiter. Er gibt ihr Zuversicht, Trost und Hoffnung. Als Oma ihr Bett nicht mehr verlassen kann, liegt die Familienbibel stets bei ihr.

Gemäß familiärer Tradition wird die Bibel im Todesfall an die jüngeren Geschwister weitergegeben. Nachdem Oma im Jahr 1993 stirbt, bekommt ihre Schwester Emma die Bibel. Als Mama 1995 bei ihr in Russland ist, bietet Emma ihr an, die Bibel zu nehmen. Ihre eigenen Kinder hätten keinen Bezug dazu. Hinzu kommt, dass ihre Tante Emma „wohl meinte, dass ich jetzt in der Heimat bin. Alleine aus dem Grunde wollte sie, dass [die Bibel] nach Deutschland geht, woher sie auch kam. Und ich glaube das war für sie Grund genug, dass ich das Buch bekomme.“

Schluss

Meine Mutter bringt die Bedeutung der Bibel für uns heute auf den Punkt. Und da ihre Generation viel zu selten gehört wird, möchte ich sie am Ende zitieren:

„also für mich ist es so – ich würde schon fast sagen wie ein Ort, wo ich mich begeben kann, wenn ich [die Bibel] in die Hand nehme. Das verbindet mich mit Russland, mit Friedhof von Russland, mit Eltern, mit Kindheit – mit allem. Das ist für mich so alles in einem – nicht nur Bibel, nicht nur Buch, nicht nur irgendwelcher Gegenstand. Die Bedeutung ist in allem viel viel größer. Sie muss nicht unbedingt gelesen werden, es reicht auch, wenn man sie einfach in die Hand nimmt und einen gewissen Zeitraum hält und in sich hinein geht. Und dann legt man sie wieder da wo sie liegt. Ich bin froh darüber, dass ich [die Bibel] hab. Ich hab nicht viel von meinen Eltern an Gegenständen. Was in der Seele ist, das ist was ganz anderes, aber Gegenstände sind auch wichtig. Und [die Bibel] ist eigentlich das Wertvollste und Wichtigste.“

Elisabeth die Große, wie alles (nicht) begann

Elisabeth die Große, wie alles (nicht) begann

Wie wurde und wird (Russland-)Deutsche Identität und Zugehörigkeit individuell ausgehandelt und erlebt? Wie hat sich der erweiterte Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine darauf ausgewirkt? Anhand von drei Perspektiven wird diesen Fragen exemplarisch nachgegangen: drei Frauen im Spannungsfeld zwischen (Familien-) Geschichte, russlanddeutscher Herkunft und einer deutsch-deutschen Gesellschaft, die nicht immer viel damit anfangen kann. Geschichten über Zwiespalt – zwischen einer oft vergessenen, oder nie gekannten, Vergangenheit und einer Gegenwart, in der es einen Platz zu finden gilt. Geschichten von Ambivalenz, Aushandlung und schließlich – Ankommen(?)

Zwischen den Stühlen

 

Deutsch sein. Was heißt das eigentlich? Das habe ich mich in meiner Kindheit, Jugend und noch im jungen Erwachsenenalter häufiger gefragt. Vor allem wenn ich mich mal wieder eben nicht ganz „deutsch-deutsch“ gefühlt habe. Zum Beispiel bei der regelmäßig gestellten Frage, ob ich Russin sei, wenn ich mich mit meinem Vornamen – Tatjana – vorstellte. Oder als mir das erste Mal bewusst wurde, dass meine Mutter mit russischem Akzent spricht.

Gehen wir etwas weiter zurück in die Vergangenheit, so stellte sich diese Frage meist gar nicht. Aufgewachsen in einem kleinen Ort in Niedersachsen, wusste mein Umfeld gefühlt besser um meine Identität als ich. Oder etwa doch nicht? In der Grundschule werde ich eines Nachmittags auf dem Heimweg von einem Mitschüler verfolgt. Er ist größer und stärker als ich und kommt mir immer näher. Dabei ruft er immer wieder „Scheiß Russen“. Damit war ich gemeint. Weder er noch ich wussten so recht, dass ich eigentlich keine Russin bin. Scheinbar auch nicht seine Eltern, denn wie kommt ein Junge im Grundschulalter darauf über scheiß Russen zu schimpfen, die nicht einmal Russen sind. Der Hass, der mir entgegenschlug, war auf jeden Fall sehr real. Genauso wie die Wut meiner Mutter und dann das ehrliche Entsetzen meiner Klassenlehrerin, als diese von dem Vorfall erfuhr. Diese Situation ist ein sehr frühes und explizites Beispiel, wie sich die beidseitige Unwissenheit über russlanddeutsche Geschichte, warum es Russlanddeutsche heißt, letztlich oft aber auch egal war, in meiner Erfahrung niedergeschlagen hat.

 

Ich war also keine Russin, aber offenbar auch keine „richtige“ Deutsche. Meine Eltern sind 1992 als Aussiedler aus Russland nach Deutschland gekommen. Ich bin 1993 bereits in Deutschland geboren. Wozu machte mich das? Zuhause wurde zwar auf ausdrückliches Bestehen meiner Eltern vorwiegend deutsch gesprochen. Doch spätestens im erweiterten Familienkreis gehörte auch das Russische dazu. Und noch so ein „komisches“ Deutsch. „Po Schwabski“ redeten Oma und Opa. Pelmeni, Kotleti, Golubtsi, Blinchiki, Piroshki, Borschtsch (natürlich) – schnell bemerkte ich, dass andere Kinder diese Speisen nicht kannten. Meine Kindergartenfreundin – bei deren Familie auf dem Bauernhof ich manche meiner schönsten Kindheitserinnerungen sammeln durfte, bei denen immer gemeinsam zu Abend gegessen wurde mit Tischgebet und frischer Kuhmilch, bei denen ich Plattdeutsch verstehen lernte, die aber genauso gerne bei uns zu Besuch war – liebte es, wenn meine Mama Pelmeni kochte. Meine beste Grundschulfreundin, die mich bat, ihr Russisch beizubringen, die heute noch eine meiner engsten Freundinnen ist und mich Tanjuscha nennt. Das sind nur zwei schöne Beispiele, bei denen Unterschiede Besonderheiten sein durften. Wo sie wertschätzend angenommen wurden und einfach sein durften, statt problematisiert zu werden.

Der Übergang zum Gymnasium stellte bei mir persönlich einen gewissen Bruch dar. Dass ich an der privaten Mädchenschule (overrated) angenommen wurde und die Tochter von Bekannten nicht, sorgte für Empörung. Als ich dann auch noch gute (schlimmstenfalls bessere) Noten hatte, stieß das einigen bitter auf. In der siebten Klasse ging ich am Tag der Zeugnisvergabe nachmittags mit meiner Mutter zum Bäcker, wo die Verkäuferin mich just auf meinen Einserschnitt ansprach – Just Dorf-things? Ich war eine von wenigen russlanddeutschen Mädchen in unserem Jahrgang, man konnte uns an einer Hand abzählen. Der Großteil der Schülerinnenschaft war weiß, deutsch und kam aus wohlhabenden Familien.

 

So fiel ich spätestens am Gymnasium auch optisch insofern auf, als dass meine Kleidung seltener von EDC als von Aldi oder Lidl kam. Dass das wenig mit Russisch (oder was auch immer) -sein und mehr mit dem dickeren Geldbeutel der meisten deutsch-deutschen Eltern zu tun hatte, konnte ich damals noch nicht so ganz auseinanderhalten.

Noch in der Oberstufe stellte meine Lehrerin im Deutsch-Leistungskurs bei der Besprechung der mündlichen Noten anerkennend fest, wie gut ich Deutsch spreche. Verwirrung meinerseits über die Verwirrung ihrerseits. „Naja, wir sprechen zuhause Deutsch“ merkte ich an und bekam ein verblüfftes „wirklich?!“ als Antwort. Ich weiß nicht, was sie erwartet hatte…

 

Gleichzeitig war ich für andere „zu deutsch“. Während ich Russisch verstand, konnte ich es lange Zeit nicht bzw. im Vergleich zu vielen gleichaltrigen Russlanddeutschen kaum sprechen. Es ergab sich so, dass ich auch eher deutsche Freundinnen hatte. Meinen Eltern, die auch in der (deutsch-deutschen) Nachbarschaft schnell Anschluss fanden, wurde vorgeworfen, sie hielten sich deshalb für etwas Besseres. Es war ein ewiges dazwischen – sein; zu deutsch, nicht deutsch genug, zu russisch, nicht russisch- genug, oder wie es so schön heißt: ne Riba ne Mjaso (weder Fisch noch Fleisch). Mein Aufwachsen war geprägt von dem Gefühl weder so richtig das Eine noch das Andere zu sein. Und von dem großen Irrglauben entweder das Eine oder das Andere sein zu müssen – sein zu können. Denn weiß man um die Geschichte von Elisabeth – pardon – Katharina der Großen und allem was danach kam, so offenbart sich die Unmöglichkeit und Unnötigkeit, sich in einer der zwei Schubladen einfinden und dort verharren zu müssen.

 

Change is coming

 

Bereits als Jugendliche begann ich mich mehr oder weniger bewusst zu weigern, irgendeine deutsch-deutsche Norm als Nonplusultra zu akzeptieren. Das äußerte sich zunächst in dem Wunsch, die gefühlt versäumte Gelegenheit Russisch zu lernen, nachzuholen. Rein pragmatisch kann das Beherrschen einer weiteren Sprache doch nur etwas Gutes sein (oder gilt das nur für Englisch, Französisch und Spanisch?). Ich begann also damit, mir das kyrillische Alphabet beizubringen. Die mehrsprachigen Produktbeschreibungen im Supermarkt waren mein Lernmaterial; in der Regel kannte ich die russischen Wörter und konnte mir so nach und nach die Buchstaben erschließen. Bei Unsicherheit wurde Mama gefragt. Ich begann mich mehr und mehr für Vielfalt an Kulturen zu begeistern und sie als Bereicherung wahrzunehmen. Mein Verhältnis zu der Frage meiner eigenen Identität, bzw. Zugehörigkeit war jedoch weiterhin nicht frei von Unsicherheit.

 

Nach dem Abitur zog es mich raus aus dem kleinen niedersächsischen Dorf; einmal über den Ozean, als Au Pair in die USA. Dort erlebte ich für mich persönlich einen Schlüsselmoment. In dem neuen Umfeld fiel ich zunächst nicht weiter auf, ein unbeschriebenes Blatt. Wäre da nicht mein Vorname. So wurde ich eines weiteren unscheinbaren Nachmittags beim Kennenlernen von einem anderen deutschen Au Pair gefragt, ob ich Russin sei. Damals reagierte ich offenbar sichtlich überfordert mit zerknirschtem Gesichtsausdruck. Was war ich denn nun? Irritiert von meiner Irritation sprach mich mein Gegenüber darauf an. Warum ich so täte, als ob das etwas Schlimmes sei? Sie käme aus einer Stadt in Bayern, wo sie viele Personen kannte, die auch aus Russland kamen. Für sie offensichtlich Normalität und Selbstverständlichkeit, frei von jeder (Ab-)Wertung. Ein Teil ihrer Familie kam aus Algerien. Von diesem „nicht-deutschen“ Teil erzählt sie ganz frei, voller Wertschätzung und Stolz. Es machte sie mit aus und gehörte zu ihr. Diese Begegnung hat mich im besten Sinne vor den Kopf gestoßen. Ich begann die verinnerlichte Unsicherheit über meine Identität zu reflektieren und zu hinterfragen, warum mich diese Frage so verunsicherte/ mir so unangenehm war. Es war eine neue Perspektive darauf, dass „anders“ sein grundsätzlich nichts Negatives bedeuten musste. Richtiger Gamechanger (danke Salima!). Während ich das ganze Thema, die ganzen (vermeintlich) unlösbaren Fragen zu meiner Identität möglichst vermieden hatte, gab diese Begegnung mir den Anstoß, mit neuen Augen auf all das zu blicken, es neu für mich zu erkunden, verinnerlichte Glaubenssätze was ich war/ was ich nicht war – was ich sein/ oder nicht sein konnte, über Bord zu werfen.

 

Situationen, bei denen ich implizit oder explizit aus einem deutsch-deutschen „Wir“ ausgeschlossen wurde, oder die gängigen Stereotype direkt oder indirekt auf mich projiziert wurden, gab und gibt es weiterhin:

Als ich eine Kommilitonin bei ihrer Familie in Augsburg besuche, nennt mich ihr Vater konsequent Natascha (close enough…?), irgendwas russisch anmutendes halt. Als mein damaliger Freund seiner Familie von mir erzählt, ist die Reaktion seines Onkels „oh nein, bloß keine Russin“ – natürlich nur ein (dummer) Witz. Lustig, lustig. Lang nicht mehr so gelacht. Nachdem er das erste Mal meine Familie besucht, fragen die Freunde erstmal „ob er auch richtig einen saufen musste“. Klassiker. „Wir“ essen unser Müsli übrigens mit Vodka, falls das nicht klar war. Als ich meinem Mitbewohner vor einigen Jahren erzähle, dass ich eine Hausarbeit über die mediale Darstellung von Russlanddeutschen schreibe, kommentiert er (leider ernsthaft) fragend: „Die wählen doch alle die AfD, oder?“. And the list goes on, aber das möge als Einblick reichen.

 

Früher reagierte ich in solchen Momenten eher unbeholfen. Dem Unwissen in meinem Umfeld konnte ich lange nichts Fundiertes entgegensetzen, weil ich es selbst nicht besser wusste. Zuhause wurde nie groß darüber geredet, warum es „Russlanddeutsche“ heißt. Wenn meine Mutter in seltenen Fällen von den Erlebnissen meiner Großmutter im Arbeitslager erzählte, konnte ich das alles gar nicht wirklich begreifen oder zuordnen, weil mir der historische Gesamtkontext, der Rahmen, um diese Informationsfetzen zusammenzusetzen, lange fehlte. Selbst als mein Vater erzählte, dass er in Russland der Deutsche war und als Faschist beschimpft wurde sowie dieser deutsche Dialekt, den meine Großeltern sprachen. All das ergab für mich lange keinen richtigen Sinn. Ohne das entsprechende Wissen konnte ich den vermeintlichen Widerspruch und darin enthaltenen Zwiespalt im RusslandDeutschen nicht für mich lösen.

 

Die Geschichte zumindest in ihren groben Zügen zu kennen war dahingehend wie eine kleine Offenbarung. Ironischerweise erinnere ich mich nicht mehr genau an diesen schicksalhaften Moment, als es Klick machte. Vielleicht war und ist es auch eher ein Prozess. Zu wissen, was es mit der russlanddeutschen Geschichte auf sich hat, war fortan wie ein Schutzschild.

Fragt mich heute jemand, ob ich Russin sei, entscheide ich tagesform- und situationsabhängig, wie ausführlich ich antworten möchte. Ob ich Lust habe, einen kurzen historischen Abriss zu geben oder mein Gegenüber mit einem kurzen „weder noch“ abspeise. Ich fühle mich nicht mehr unter Druck, mich einer Seite zuordnen zu müssen, mich entscheiden und als das eine oder andere beweisen zu müssen, u.a. indem ich mich von dem jeweils anderen abgrenze. Das war ein langer Prozess und die Ambivalenz als solche ist nicht weg. Ich empfinde sie nur (eigentlich) nicht mehr als Problem, als meine Verantwortung oder meine Unzulänglichkeit. Statt mich zu verunsichern, machen mich solche Begegnungen heute höchstens wütend. Und diese Wut maße ich mir inzwischen auch an – sorry, not sorry.

 

Meine Perspektive und die oben geschilderten Erfahrungen spiegeln lediglich mein persönliches Erleben und meine individuelle Sicht wider. Sie skizziert exemplarisch, wie russlanddeutsche Zugehörigkeit erlebt und individuell ausgehandelt werden kann. Im Folgenden möchte ich dahingehend zwei weitere Sichtweisen beleuchten und dabei auch darauf eingehen, welche Erfahrungen die von mir interviewten Personen diesbezüglich nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine gemacht haben. Disclaimer: Diese Beispiele können keinerlei Anspruch auf Repräsentativität erfüllen – es sind individuelle Perspektiven, die einen kleinen Einblick ermöglichen sollen.

 

Olga

 

Darf ich also vorstellen: Olga. Olga ist Russlanddeutsche und würde sich auch selbst so bezeichnen. Im Jahr 1995 ist sie im Alter von zwölf Jahren mit ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester aus Kasachstan nach Deutschland gekommen. Genau genommen ist sie also Kasachstandeutsche. Heute ist sie vierzig Jahre alt, verheiratet und Mutter von zwei Kindern im Alter von sieben und zwölf Jahren.

Das Ankommen in Deutschland war für sie nicht leicht. Weder sie noch ihre Eltern sprachen Deutsch, man fiel direkt auf. Besonders als Kind keine leichte und, wie im Laufe unseres Gesprächs mehrfach deutlich wird, sehr prägende Erfahrung. Besonders an die ersten Tage in der Schule kann sie sich noch gut erinnern: „Man wurde angesprochen und hat nichts verstanden und wurde dann einfach ausgelacht. Ich hatte echt Tage, da wollte ich nicht zur Schule gehen.“ Ausgrenzung von ihren MitschülerInnen gehörten zum (Schul-)Alltag. Schnell entwickelte sich der Wunsch, am liebsten nicht aufzufallen, also hat sie „versucht, sich so ein bisschen anzupassen.“

Die Eltern waren ihrerseits mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert und konnten in diesen Dingen keine große Unterstützung leisten. Die Erinnerungen an diese erste Zeit bringen in unserem Gespräch alte Emotionen hoch. „Als Kind, da hat es einem schon ziemlich viel ausgemacht. Man hat das Gefühl gehabt, man passt nicht wirklich rein.“

 

Mit der Zeit entwickelte sie aber ein neues Selbstverständnis: „Anders“ bzw. nicht „nur“ deutsch zu sein, ist inzwischen frei von Scham und negativen Konnotationen. Das Russlanddeutsche äußert sich laut Olga dabei in kleinen Dingen des Alltags. Sei es die russische Sprache, Gerichte, und auch die Wahrnehmung durch andere; man merke es allein schon an ihrer Aussprache und ihrem Namen. „Aber man steht dazu, jetzt mit vierzig Jahren.“

Inzwischen sieht sie selbst „das Russlanddeutsche“ als Bereicherung, etwas das gepflegt werden sollte und das sie dementsprechend auch an ihre Kinder weitergegeben möchte: das Wissen um die eigene Geschichte, Traditionen und nicht zuletzt die Sprache. Es sei wichtig, „die Muttersprache beizubehalten“ und „dass man sich dafür auch nicht schämen muss. Das gehört zu einem dazu und das ist auch gut so und das ist auch schön so“.

 

Sie werde von Mitmenschen immer noch häufig als Russin bezeichnet. Immer wieder macht sie die Erfahrung, dass von ihrem Umfeld nicht differenziert wird: „Es ist ja grundsätzlich erstmal die Frage, wird man als Russlanddeutsche oder als Russin gesehen. […] Das sehen halt viele nicht, für die meisten ist man einfach eine Person, die halt aus Russland kommt – egal, ob man jetzt aus Kasachstan kommt, oder was weiß ich, aus der Ukraine teilweise. Man wird einfach als Russin bezeichnet, das hört man immer wieder.“ Als Kind habe sie das mehr wahrgenommen, aber „mittlerweile hört man da einfach drüber weg vielleicht“.

 

Mit Russlands erweitertem Angriffskrieg gegen die Ukraine, wird diese mühsam zugelegte „dickere Haut“ und die damit erlangte Selbstsicherheit auf die Probe gestellt.

Sie selbst ist schockiert, als sie am 24.02.2022 davon erfährt: „Ich weiß noch, ich bin morgens wach geworden, bin bei Insta drauf und eine Freundin von mir, die aus der Ukraine kommt, hat das dann gepostet, dass Russland die Ukraine angegriffen hat – und da war man erstmal wie in Trance. Man hat irgendwie die Welt nicht mehr verstanden.“

Viel Zeit, um ihre eigenen Gefühle zu ordnen, blieb ihr nicht. Nachdem sie ihrer Freundin ihr Beileid ausgesprochen hat, bringt sie ihren Sohn zum Kindergarten und wird sogleich auf die Geschehnisse angesprochen. Eine Erzieherin fragt sie, wie sie „als Russin“ dazu stehen würde, dass Putin die Ukraine angegriffen hat. Bei der Arbeit wird sie von einem Kollegen mit den Worten „Na Putin“ begrüßt. „Da wurde mir einfach nochmal klar, dass die Leute gar nicht wissen – wer ist Russin, wer ist Russlanddeutsche. […] Dann musste ich tatsächlich nochmal aufklären, wo ich herkomme und dass das Ganze nichts mit mir als Mensch zu tun hat.“

Die Tatsache des Krieges an sich und die oben geschilderten Begegnungen, vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen als Kind, wecken bei ihr ein diffuses Gemisch aus Sorgen und Ängsten – verstärkt durch den von außen an sie herangetragenen Rechtfertigungszwang. „Da kamen halt wieder diese Ängste von früher […] ob wir jetzt benachteiligt werden“, hinzu kämen nun „Ängste um die Kinder, dass die ausgeschlossen werden durch andere […], weil die sich nicht mit der Geschichte auseinandersetzen und alle unter den Begriff ‘Russe’ stecken.“

 

Die durch den Druck von außen verstärkte Angst und Verunsicherung wirkt auch in ihre sozialen Beziehungen hinein. Im engeren Freundeskreis kommen UkrainerInnen und (tatsächliche) RussInnen zusammen. Es drängt sich die Sorge auf: „Wird man anders behandelt oder verändert sich der Umgang untereinander?“ Wie sich herausstellt, teilen alle diese Sorge auf ihre Weise. Die Anspannung wird schließlich gelöst, indem das Thema zeitnah angesprochen wird und alle Raum haben, sich dazu zu äußern und Stellung zu beziehen. Wobei es auch zu inhaltlichen Konflikten/ Differenzen kommt. Vor allem unter den Männern habe es ein paar Reibereien gegeben – Fragen, über die sie sich nicht wirklich einigen konnten: „Der eine hat sein Land vertreten, der andere hat versucht sein Land zu vertreten und man hat halt versucht die Geschichte von was weiß ich wie vielen Jahren herauszuholen, um dem Anderen zu beweisen, dass man vielleicht im Unrecht ist – oder im Recht.“ Man würde im eigenen kleinen Rahmen jedoch nichts ändern, geschweige denn lösen können. Darauf einigten sich die Freunde schließlich – und blieben vor allem das: Freunde. Das Thema des Krieges wird fortan weitestgehend gemieden. „Wir können immer noch alle an einem Tisch sitzen“, schnell war klar, „da ändert sich so für uns nichts. Obwohl jeder mit dieser Angst zu kämpfen hatte […] die ersten Tage.“

 

Konfliktpotenzial gibt es auch mit ihren Eltern, die vor allem russisches Fernsehen konsumieren. Olga hat das Gefühl „dass die [Eltern] ihre Meinung gar nicht mehr vertreten können […] weil die so in diesem ganzen Medienzeug mitfließen.“ Sie selbst hält sich grundsätzlich von jeglicher medialen Berichterstattung fern – aus Selbstschutz. Über ihre ukrainischen FreundInnen und teilweise deren Angehörige bekommt sie gelegentlich etwas mit.

Der Krieg geht ihr „als Mensch“ nahe: „Es ist da. Und es ist schlimm, dass es immer noch nicht beendet wurde. Und es ist immer im Hinterkopf. Man kriegt es ja auch immer wieder von den Verwandten der Freunde mit.“

„Aber diese Unsicherheit, wie am Anfang, ist halt nicht mehr da.“ Von einer auf sie als Russin… äh, Russlanddeutsche, projizierten Verantwortung macht sie sich also frei und lernt den an sie herangetragenen Rechtfertigungszwang nicht an sich heranzulassen. Eine Schlüsselfunktion kommt dabei dem Wissen über die Geschichte zu und davon ausgehend dem Bewusstsein, wer sie ist: „Ich weiß, wie die Geschichte ist. Und das ist auch gut so.“

Juliane

 

Als nächstes möchte ich Euch gerne Juliane vorstellen. Wie Olga sind auch Julianes Eltern als Kinder nach Deutschland gekommen. Julianes Mutter im Alter von vierzehn Jahren aus Russland und ihr Vater im Alter von dreizehn Jahren aus Kasachstan. In Deutschland haben sie sich noch als Teenager kennen- und lieben gelernt, geheiratet, ein Haus gebaut und in einem kleinen Ort in Niedersachsen ihre Familie gegründet.

Juliane ist in Deutschland behütet aufgewachsen. Heute ist sie neunzehn Jahre alt, hat in diesem Jahr ihr Abitur absolviert und studiert nun Mathe und Deutsch auf Grundschullehramt. Befragt nach ihrem Zugehörigkeitsgefühl scheint die Antwort zunächst klar: Geboren und aufgewachsen in Deutschland fühlt sie sich als Deutsche und würde sich auch so bezeichnen. Um „später keine Probleme zu haben“, war es auch ihren Eltern ein Anliegen, dass Juliane gut Anschluss findet. Während sie von bekannten Familien berichtet, wo die Kinder teilweise bis zum Kindergarten nur Russisch lernten, sollte sie mit Deutsch als Erstsprache aufwachsen. Personen, die Juliane kennenlernen, würden sie auch als Deutsche wahrnehmen – in anderen Worten: Sie fällt auf den ersten Blick nicht als „anders“ auf. Sie gehört – wie es ihren Eltern ein Anliegen war – dazu.

 

„In meinem Umfeld merkt man mir das angeblich nicht an, dass meine Eltern woanders herkommen“ – dieses „woanders“, das Russische im Russlanddeutschen, äußere sich demnach primär im familiären Kontext.  Vor allem bei ihren Großeltern wird – im Vergleich zum Elternhaus – mehr Russisch gesprochen, es läuft russisches Fernsehen, es gibt häufiger russisches Essen. Weihnachten wird zweimal gefeiert; im Dezember und nach russisch-orthodoxer Tradition nochmal Anfang Januar.

 

In ihrem sozialen Umfeld spiele es hingegen keine, höchstens eine marginale Rolle. Ihre Freundinnen seien auch alle Deutsche. Aus ihrem (Abi-)Jahrgang wussten bspw. nur sehr wenige, eigentlich nur ihre engsten Freundinnen, dass ihre Eltern aus Russland kommen. Wenn das Thema doch mal zur Sprache kam, weil jemandem der Akzent ihrer Mutter auffiel oder sie russisches Essen dabei hatte, habe sie nur positive und interessierte Reaktionen erlebt.

Einmal auf Klassenfahrt habe sie ihren Freundinnen „dann komplett die ganze Geschichte erzählt mit dieser Elisabeth, ne…“ Juliane hält inne und wir müssen beide lachen. „Katharina“, ergänze ich lachend ihren Satz. Die Große halt.

Ihre Freundinnen fanden es sehr interessant, „dass frühere Generationen in Deutschland gelebt hätten und dann nach Russland ausgewandert sind, um dort zu helfen, das Land aufzubauen und zu etablieren und dann wieder nach Deutschland gekommen sind, um da ein besseres Leben zu haben.“ So fasst Juliane die Geschichte für sich und ihr Umfeld zusammen. Details sind dabei nicht so wichtig: „Die [ihre Vorfahren] sind vor mehreren Jahren von Deutschland nach Russland gezogen, also vielleicht die Generation davor [vor ihren Großeltern] oder davor“, das könne sie nicht genau beantworten. Das Wissen reicht, um den Begriff Russlanddeutsch grob ein- und zuordnen zu können und ihren familiären Bezug dazu zu begründen.

Ihre Eltern leben ihr einen offenen Umgang mit der eigenen Herkunft vor. Auch sie pflegen ein enges Verhältnis mit der (deutschen) Nachbarschaft. Bei dem Thema Russlanddeutsche waren diese sehr interessiert. Ein Buch über ein russlanddeutsches Dorf wurde nicht nur in der Familie, sondern auch bei den Nachbarn rumgereicht; um sich ein Bild zu machen und „ein besseres Verständnis zu haben für ‘uns’“.

Ein Zwiespalt zwischen den (vermeintlichen) zwei Seiten im RusslandDeutschen deutet sich in Julianes Fall höchstens an, scheint aber nicht so eine konflikthafte, aufgeladenen Angelegenheit für sie darzustellen. Ihre Herkunft, bzw. familiäre Geschichte sei ihr schon wichtig, wie sie betont: „Obwohl ich mich eher deutsch zugehörig fühle, [habe ich] auch dieses Russische doch irgendwie im Herzen […] und würde es nicht weggeben wollen.“

Wie entwickelt sich dieser zunächst höchstens angedeutete von ihr nicht als problematisch empfundene Zwiespalt angesichts des Angriffskrieges?

An ihrer Schule werden Freizeitangebote für ukrainische Kinder angeboten. Sie findet die Aktion gut und wichtig und möchte sich gerne engagieren und beteiligen, merkt jedoch eine große Unsicherheit. „Wenn ich wirklich ehrlich bin, hatte ich Angst zu sagen, dass ich Russin bin.“ Im schulischen Kontext wüssten ja nur wenige Personen von ihrem russlanddeutschen Hintergrund. Ihre Sorge bestand allerdings primär darin, „dass die Kinder dann sofort Angst bekommen und wegrennen“. Sie wollte die Kinder nicht unnötig verwirren und möglicherweise abschrecken. Auch Misstrauen und mögliche Ablehnung seitens der ukrainischen Eltern stellten eine Sorge dar. Letztlich entschied sie sich, nach Abwägen und in Absprache mit ihrer Familie, dagegen, ihre Russisch-Kenntnisse explizit zu thematisieren. Im Zuge der Arbeit kamen sie ihr dann doch zu Gute; im Gegensatz zu ihren auch am Projekt beteiligten Mitschülerinnen konnte sie die ukrainischen Kinder meist verstehen und so hinter den Kulissen unauffällig vermitteln, Bedürfnisse aufklären. Auch als sie einem kleinen Mädchen einmal auf Russisch antwortet, schaut dieses lediglich kurz verblüfft, rennt aber nicht verängstigt weg. Angesichts der antizipierten Fremdzuschreibung als „Russin“ aufgrund ihrer Sprachkenntnisse und der befürchteten negativen Reaktion, wechselt in diesem Kontext die Selbstbezeichnung.

Ganz anders erlebt sie das Miteinander im Sportverein. Beim Volleyball, wo ihre ganze Familie trainiert, schließen sich einige Geflüchteten aus der Ukraine der Gruppe an. In diesem Kontext kommt der zuvor geschilderte Zwiespalt überhaupt nicht auf. Im Verein seien sehr viele Russlanddeutsche und den UkrainerInnen sei das auch im Vorfeld klar gewesen. „Da haben die sich sogar gefreut, dass die jemanden hatten, mit denen sie auf ihrer Sprache sprechen können.“ Über den Sport entsteht ein Miteinander, bei dem die russische Sprache eine leichtere Kommunikation erlaubt und gewissermaßen als verbindendes Merkmal dienen kann. Es entstehen Verbindungen, die von gegenseitiger Wertschätzung geprägt sind, trotz, oder wegen des Russischen im Russlanddeutschen. Auch die eigenen Erfahrungen, bspw. von Julianes Mutter, spielen eine Rolle: zu wissen, wie es war, selbst in einem neuen Land anzukommen und sich zurechtfinden und Anschluss finden zu müssen und zu wollen. Für sie ist es selbstverständlich, bei Bedarf und Möglichkeit zu helfen und besonders eine junge ukrainische Mutter bei Angelegenheiten wie Arztbesuchen oder der Wohnungssuche zu unterstützen. Sie kann ihr inzwischen aufgebautes soziales Kapital und ihre eigene gute Vernetzung in dem kleinen Ort einsetzen, um Geflüchtete aus der Ukraine zu unterstützen.

Tatjana

Während ich Olga und Juliane zuhöre, fallen mir Unterschiede, aber auch Parallelen zu meinen eigenen Erfahrungen auf. Wie Olga, glaubte auch ich, das Thema Identität/ Zugehörigkeit mit dreißig weitestgehend für mich gelöst zu haben. Doch auch für mich stellte der 24.02.2022 dahingehend einen Einschnitt dar. Das Russlanddeutsche geriet gewissermaßen wieder mehr in den Vordergrund.

 

Als ich am Morgen des 24.02.2022 die Nachrichten über den Überfall Russlands auf die Ukraine las, empfand ich allem voran Schock und Entsetzen. Ein Teil von mir hatte es nicht für möglich gehalten, dass es so weit kommt.

Dem ersten Schock folgte schnell ein wilder Cocktail an Emotionen; die Sorte, die einen schnell und effizient umhaut. Unter Wut und Trauer mischten sich Scham und Verantwortungsgefühl, Tatendrang, bei gleichzeitig empfundener Ohnmacht. All dem zugrunde lag letztlich eine diffuse Angst, die in den kommenden Tagen und Wochen zunehmend klare Facetten annahm.

Angst vor einer unberechenbaren Zukunft – was wird mit den Menschen in der Ukraine geschehen, wie lange wird dieser Wahnsinn andauern, wird alles komplett eskalieren?

Angst vor den gesellschaftlichen Auswirkungen – wird antislawischer Rassismus in Deutschland zunehmen? Werden sich in der Gesellschaft bereits bestehende Fronten noch mehr verhärten?

Angst, wie viele Menschen die Klischees der russlanddeutschen „Putin-Ultras“ erfüllen – werden sie (wieder) die öffentliche Wahrnehmung dominieren?

Angst um den familiären Zusammenhalt – werden wir uns weitestgehend einigen können, oder an Differenzen zerbrechen? Lauter angstgeladene Fragen.

 

Wie in so vielen Familien, kam es auch bei uns zuhause zu „Reibereien“, wie Olga und Juliane es gleichermaßen nannten. Meine Eltern gehören nicht zu den Putin-Ultras, die es ja leider durchaus unter Russlanddeutschen gibt. Sie schauen kein russisches Fernsehen. Und doch bewerten sie manche Fragen etwas anders. Darüber, dass der Krieg schrecklich ist, war man sich einig. Es kam dennoch zu Konflikten, wenn es um die Rolle Russlands ging. Meine Meinung kennen sie. Aber nach teils hitzigen Auseinandersetzungen, wird auch bei uns das Thema inzwischen eher gemieden. So können auch wir weiterhin an einem Tisch sitzen. Ein Familienfrieden mit gelegentlich bitterem Beigeschmack, für den ich dennoch dankbar bin.

 

Einem Rechtfertigungszwang von außen, wie Olga ihn erlebte, war ich nicht ausgesetzt. Wie Juliane, werde auch ich heute eher deutsch gelesen und falle zunächst nicht als Russlanddeutsche auf. Ich spürte zwar keine Angst, aber doch eine gewisse Befangenheit bei der Vorstellung, wie ukrainische Menschen auf mich reagierten, wenn meine Russisch-Kenntnisse herauskämen oder ich meinen Vornamen nannte. Einmal bewusst wahrgenommen, habe ich versucht mich von diesen Befürchtungen zu lösen, um beispielsweise im Ehrenamt weiterhin offen auf Menschen zugehen zu können. In konkreten Begegnungen erwies sich jegliche Unsicherheit dahingehend, zu meiner Erleichterung, auch als unnötig.

 

Anfangs Proteste und Widerstand in Russland zu sehen, gab mir kurz Hoffnung. Auch wenn ich im Grunde wusste, dass nicht alle „so sind“, bedeutete es mir viel zu sehen, dass sich Menschen sichtbar dagegen positionierten. Auch wenn vorsichtige Hoffnungen dahingehend längst kompletter Desillusionierung weichen mussten.

Die besonders anfangs gezeigte Solidarität mit der Ukraine fand ich wichtig und richtig. Gleichzeitig stand sie für mich im Kontrast zu der Tatsache, dass auch in Deutschland lebende, meist russisch gelesene UkrainerInnen, von antislawischem Rassismus betroffen sind.

 

Soziale Medien spielten besonders in der ersten Zeit eine wichtige Rolle bei dem Versuch, irgendeinen Umgang mit der Situation zu finden und aus den Gedanken im eigenen Kopf herauszukommen. In einer glücklichen Fügung des Algorithmus stieß ich auf Ira Peters Instagram-Profil. Über sie bin ich auf weitere Personen und Formate aus der russlanddeutschen/ Post-Ost Bubble und deren Arbeit aufmerksam geworden. Diese Bubble hat mich digital aufgefangen, als ich mich mit all meinen Fragen und Ängsten, besonders in den ersten Tagen und Wochen nach dem 24.02.2022, allein fühlte. Sie gibt mir auch fortlaufend Impulse, mich weiter, bzw. neu mit Geschichte, Identität und Zugehörigkeit auseinanderzusetzen, wirft neue Fragen auf und bietet Antwortmöglichkeiten, in denen ich mich wiederfinde, oder an denen ich mich abarbeiten kann. Wie sehe und stehe ich im Verhältnis zum Rest der Gesellschaft? Wie kann und will ich zukünftig mit diesem Russischen im Russlanddeutschen umgehen? Was gilt es zu bedenken, was gibt es noch zu lernen? Lauter neue Fragen, mit denen ich nun aber nicht allein dastehe und die Handlungsfähigkeit statt Ohnmacht fördern.

 

Man wird ja wohl noch träumen dürfen

 

Die Kenntnis der Russlanddeutschen Geschichte und die Möglichkeit, sich darauf zu beziehen und sich selbst davon ausgehend in der Gesellschaft verorten zu können, spielt in allen drei zuvor geschilderten Perspektiven eine Rolle. Aber genau dieses Wissen ist oft nicht vorhanden, wird nicht vermittelt oder gepflegt.

Es gibt meines Erachtens eine kollektive Wissenslücke in der deutschen Gesellschaft. Und die betrifft nicht nur die Geschichte der Russlanddeutschen, sondern sämtliche nicht „deutsch-deutschen“ Geschichten und Erfahrungen.

Gleichzeitig habe ich auch das Gefühl, dass sich da etwas ändert. Langsam, aber sicher. Projekte, wie dieses, in dessen Rahmen ich diesen Text verfasse, sprechen dafür. Das erfüllt mich mit Hoffnung und Freude. Gleichzeitig sehe ich sehr viel Luft nach oben und eine zwingende Notwendigkeit, diese zu nutzen. Während Wissen die Grundlage für gegenseitiges Verstehen bilden kann, gilt im Umkehrschluss das Gleiche: das Fehlen dessen bietet Nährboden für Missverständnisse und Zwietracht. Das gilt nicht nur auf individueller Ebene, sondern nicht zuletzt auch bezogen auf den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt. Angesichts einer immer weiter erstarkenden menschenfeindlichen Partei, wie der AfD, scheint es mir dringender denn je, diesen gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern.

Ein wichtiges Instrument könnte und sollte dafür (institutionelle) Bildung darstellen. Unsere Elterngeneration hatte oft andere Sorgen, als uns die geschichtlichen Zusammenhänge in Gänze zu vermitteln. Es sollte auch nicht ihre alleinige Verantwortung sein. Vielmehr sollte sich die reale Vielfalt Deutschlands als Einwanderungsland auch in den Geschichten widerspiegeln, die erzählt, gelehrt, die mitgedacht werden. Der Geschichtsunterricht wäre hier ein Ansatzpunkt. Oder die LehrerInnenausbildung – man denke an meine Deutschlehrerin.

Wissensaustausch auf persönlicher Ebene kann im Rahmen von Begegnungen und Beziehungen ein wertvolles Geschenk sein. Auch ich habe von FreundInnen über ihre jeweilige Familiengeschichte lernen dürfen und persönliche Einblicke gewonnen. „Das kann natürlich keine institutionelle Bildung je ersetzen, was nicht heißt, dass sie es nicht trotzdem versuchen muss.“ Diese Worte von Gerrit Wustman treffen es für mich auf den Punkt.

Wenn ich mich also heute, wie anfangs formuliert, frage: „Deutsch-sein, was heißt das eigentlich?“, geschieht das vor einem anderen Hintergrund. Mit einem kritischeren Blick auf die deutsche Gesellschaft als Ganze (zu der ich mich inzwischen selbstverständlich dazuzähle), also mit mehr Selbstbewusstsein und weniger Identitätskrise. Stattdessen sehe ich „die“ deutsche Gesellschaft in der Verantwortung, Zugehörigkeit so umzudefinieren und zu öffnen, dass sie nicht einem exklusiven deutsch-deutschen „Wir“ vorbehalten bleibt, sondern alle Menschen in der Gesellschaft umfasst.

 

A girl can dream…