Repatriierung

Elena Rohloff

Elena Rohloff

Diese gestalterische Arbeit thematisiert die stalinistische Zwangsrückführung der Russlanddeutschen und ist zugleich eine persönliche Aufarbeitung einer Familiengeschichte.

In ihrem Beitrag Repatriierung setzt sich die Künstlerin Elena Roloff mit der Zwangsrückführung von Russlanddeutschen in die Sowjetunion, die sich während der letzten Kriegstage auf der Flucht auf dem Gebiet des Deutschen Reiches waren, auseinander. Dabei verarbeitet sie die Geschichte ihres Großvaters und reflektiert die Auswirkungen von sowjetischen Deportationen und Volkstumspolitik der Nazis auf die Gegenwart. Das Werk ergänzt ihre Bachelorarbeit „Hier bin ich die Russin. Dort bin ich die Deutsche“. Das Kunstbuch ist eine persönliche Suche nach Identität in der modernen Gesellschaft und den Wurzeln ihrer russlanddeutschen Familiengeschichte.

Repatriierung

Dies ist ein Projekt, das sich aus der Bachelor-Arbeit von Elena Rohloff ergeben hat. Hier gibt es weitere Impressionen von der Arbeit der Autorin.

Ein Pinselstrich für mich, für dich und für Opa

Olga Bolgov

Olga Bolgov

Die Kunst als Erinnerung einer vernarbten Seele

Olga Bolgov untersucht Kunstwerke, die sich mit den unausgesprochenen Traumata vergangener Generationen befassen, insbesondere den Opfern des Stalinismus gewidmet sind. Diese Werke zeigen grausame historische Ereignisse, die nicht fotografisch festgehalten wurden, und eröffnen emotionale Einblicke. Davon inspiriert, verarbeitet die Autorin ihre eigene Familiengeschichte und stellt eine erinnerte, mythische Geschichte als Gemälde dar.

Ein Pinselstrich für mich, für dich und für Opa

Zwischen Leere und Vorstellung

Ich widmete meinen ersten Pinselstrich meinen Großeltern, die in ihrer ersten Wohnung in Deutschland, in einem heruntergekommenen Hochhaus, endlich ein Sofa bereitgestellt bekamen. Sie lächelten und lachten, sie waren endlich in ihrer neuen (ursprünglichen) Heimat angekommen. Meinen Strichmännchen hatte ich ein breites Grinsen ins Gesicht gesetzt. In diesem Wohnzimmer lernte ich nach und nach ihre Vergangenheit kennen. Aber ich war zu jung, es zu verstehen. Warum waren wir angeblich Deutsche, wenn wir doch alle Russisch miteinander sprachen? Wieso wurden alle traurig, wenn der Begriff „Deportation“ fiel? Da über diese Themen selten geredet wurde, wusste ich viele Jahre nicht, wer wir überhaupt waren.

Als sich die Puzzleteile nach und nach zu einem Bild fügten, wollte ich mehr erfahren und…konnte es nicht. Ich kam zu spät. Mittlerweile waren alle Familienmitglieder verstorben, die diese Zeit miterlebt hatten. Was blieb, waren nur Erinnerungsfetzen, die weitergetragen wurden. Die wolgadeutsche Heimat meines Opas konnte nur vage beschrieben werden, die Zeit nach der Deportation war ein trübes Gewässer voller Ungewissheit für die Familie. Es gibt keine Fotos, als sie unter der Kommandantur lebten und auch nicht, als ihnen Rechte zugesprochen wurden.

In einer inklusiven Erinnerungskultur innerhalb einer Migrationsgesellschaft sollten verschiedene Perspektiven und Narrative berücksichtigt werden. Gedenktage können dabei eine wichtige Rolle spielen, indem sie der Geschichte und den Erfahrungen von Migrantinnen und Migranten und ihren Nachkommen Sichtbarkeit verleihen und diese als selbstverständlichen Teil der deutschen Geschichte und Gegenwart anerkennen.

In Hinblick auf die russlanddeutsche Community fallen im Gedenkkalender zwei Daten ins Auge: der 28. August als zentraler Gedenktag der Russlanddeutschen sowie der 9. Mai als ursprünglich sowjetischer Feiertag. Bei letzterem handelt es sich um den Tag des Sieges, der in Russland und einigen anderen Nachfolgestaaten nach wie vor von Bedeutung ist.

Nach der Deportation im Jahr 1941 mussten die Russlanddeutschen, getrennt vom Rest der Bevölkerung, in Sondersiedlungen leben. Dort herrschten strenge Meldepflichten und Ausgangsbeschränkungen. Die Kommandantur und die Sondersiedlungen wurden erst 1956 aufgelöst.

Heinrich Brogsitter (1932-?)

Biografie
Geboren im Gebiet Samara in Russland, wurde Heinrich Brogsitter mit seiner Familie 1941 nach Kasachstan ins Gebiet Karaganda deportiert und musste bis 1956 unter Kommandantur leben. Seit seiner Kindheit malte Brogsitter sehr viel. In seinen späteren Kunstwerken finden sich vermehrt Sowjet- und Nazisymboliken, die seine widerstrebende Haltung diesen Themen gegenüber verdeutlichen. Das Studium im Bereich Geschichte und Journalistik trug zur Verwendung von geschichtlichen Symboliken bei. So wurde er mit einem Gemälde zur Deportation der Russlanddeutschen bekannt, das in Zeitschriften und Büchern veröffentlicht wurde. Seit 1993 lebte er in Deutschland und hatte Ausstellungen sowohl im In- als auch im Ausland.

„Das sinn‘ die…“ (1995) © Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte/ Inv.Nr.: 2002/13

Beleuchtet von der feuerroten Abendsonne kamen sie. Mit vorgehaltener Hand wurde das Unheil einfach nur als „die“ bezeichnet – die Angst war zu groß sie beim Namen zu nennen. Aber jeder wusste, wer damit gemeint war. Der schwarze Rabe, links im Bild, kam immer im Dunkeln, um die Gefangenen zu überraschen, um sie an der Flucht zu hindern. Von grausamer Hand geführt, erfolgten die Zugriffe des NKWD willkürlich. Schuldig waren die Opfer nur in den seltensten Fällen – niemand war vor ihnen sicher. Die Existenz der Beschuldigten verschwand im Nebel, der sich für die Angehörigen teilweise nie wieder lichten würde. Sie erhielten weder eine Erklärung noch einen Hinweis auf den Verbleib ihrer Liebsten. Der Abtransport war für die Gefangenen nur der Anfang eines langen Weges der Tortur.

Der Gefangenentransporter wurde als schwarzer Rabe bezeichnet und war das Erkennungsmerkmal des NKWD.

Offiziell das Innenministerium der Sowjetunion. Bis 1954 war es verantwortlich für die staatliche Sicherheit und mit dem Begriff „NKWD“ ist immer die Geheimpolizei der Sowjetunion gemeint.

Jakob Wedel (1931-2014)

Biografie
Als Sohn russlandmennonitischer Vorfahren ist Jakob Wedel schon im frühen Kindheitsalter mit den sowjetischen Repressionen in Berührung gekommen. In seinem nahen, familiären Umfeld wurden mehrere Personen inhaftiert – sein Vater wurde hingerichtet und seine Mutter wurde in die Trudarmee einberufen. Bis die Mutter zur Familie zurückkehrte, musste Wedel als Landwirt und Zimmermann hart arbeiten. Da es in seiner Familie viele Schnitzer, Tischler und Musiker gab, hatte auch Wedel diese Leidenschaft geerbt und diese, selbst in den härtesten Zeiten, nie losgelassen. Es war eine Schicksalsfügung, als er im Alter von 32 Jahren die Möglichkeit erhielt, in Frunse (heute Bischkek) Bildhauerei zu studieren. Seine Skulpturen widmete er dem kirgisischen und deutschen Volk, womit er große Bekanntheit erlangte. Nach seinem Umzug nach Deutschland wurden die Themen der sowjetischen Repressionen immer präsenter in seinen Werken. So trug er mit seinen Kunstwerken verstärkt zur Gründung des Museums für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold bei.

Troika – die rote Bande (1992) © Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte/ Inv.Nr.: 0000/18

Die Opfer des Stalinismus waren grenzenlos. Ein Meer aus Verurteilungen, Qualen und Hinrichtungen. Gefordert wurden neue Handlungsweisen, die den Verurteilungsprozess beschleunigen sollten. Die Schuldfrage musste von drei Individuen, der „Troika“, einheitlich bestätigt werden. Die Troika bestand aus einem NKWD-Mitglied, einem Parteimitglied und einem Staatsanwalt. Die Skulptur zeigt das dramatische Verhör eines Ehepaars. Am Kopfende des Tisches beobachtet der Abteilungsführer des NKWD das Geschehen. Seine Waffe liegt unbeaufsichtigt vor ihm – er weiß, dass keiner diese anrühren wird. Der verdächtigte Mann wird von einem Beamten bedroht, seine Frau vom anderen gedemütigt. Sie sind unschuldig und sollen dennoch ein Verbrechen zugeben, welches sie nicht begangen haben. Als Strafe folgte immer die Hinrichtung. In der Ecke thront eine Büste von Stalin – sein Terror ist bei jedem Verhör anwesend.

Arbeiterarmee, in welche zumeist deportierte Russlanddeutsche, aber auch Russen und andere Nationalitäten, einberufen wurden und Zwangsarbeit leisten mussten.

Viktor Hurr (1949-)

Biografie
Die russlanddeutschen Vorfahren von Viktor Hurr waren ansässig im Kaukasus, bis sie nach Kasachstan zwangsumgesiedelt wurden. Seine Eltern lernten sich in einem Arbeitslager in Russland kennen, in dessen Nähe Viktor Hurr geboren wurde. Nach ein paar unruhigen Jahren zog die Familie nach Usbekistan um und lebte dort bis sie nach Deutschland auswanderte. Per Fernstudium machte Hurr eine Ausbildung zum Grafiker, Aquarellmaler, Bildhauer und arbeitete mehrere Jahre als Kunstlehrer. Die Erinnerungen seiner Familie begleiteten ihn, weshalb er diese in Gemälden, Collagen, Zeichnungen und Aquarellen festhielt. Die Motive reichen von Darstellungen des Alltags bis hin zu Landschaften. Ein zentrales Hauptthema sind vor allem die tragischen Erlebnisse der älteren russlanddeutschen Generation.

„Deportation im Jahr 1941. Beladung der Eisenbahnwaggons.“ (1995-1997) © Viktor Hurr

Die Eisenbahnwaggons entführten die Menschen in eine ungewisse Zukunft. Die Zwangsumsiedlung war ein drastischer Wendepunkt in der Geschichte der Russlanddeutschen. Die kollektive Bestrafung für den Verdacht der Zusammenarbeit mit dem Dritten Reich besiegelte ihr Schicksal und das der nachfolgenden Generationen. Als sie unter Geleit des Geheimdienstes ihre geliebte Heimat verließen, wussten sie nicht, dass sie nie wieder zurückkehren würden. Die Heimat, die sie jahrhundertelang aufgebaut hatten, wurde ausgelöscht. Die Ziele ihrer Deportation lagen weit im Osten des Landes – entweder Sibirien oder Kasachstan. Auf engstem Raum zusammengedrängt, überlebten manche diese Reise nicht. Familien und Freunde verloren sich für immer. Ihnen blieb keine Heimat mehr, nur noch sie selbst.

Auf Einladung von Zarin Katharina II kamen deutsche Siedler in russische und ukrainische Regionen und gründeten deutsche Dörfer und Städte. Sie behielten die deutsche Sprache und ihre Traditionen mehrere Jahrhunderte bei.

Nikolaij Getman (1917-2004)

Biografie
Seit seinem Kindesalter betrachtete Getman seine Welt durch eigene Zeichnungen und Gemälde. Von der Kunst geleitet, schloss er die Kunsthochschule in Charkiw ab und arbeitete als Künstler im Theater. Dann folgte ein drastischer Einschnitt, als er in die Rote Armee einberufen wurde und im Zweiten Weltkrieg dienen musste. Diese grausamen Jahre überlebte er und wurde kurz danach wegen einer Stalin-Karikatur, die sein Freund gemalt hatte, festgenommen und zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt. In Sibirien und im Fernen Osten behielt er die Erinnerungen an diese Zeit und begann seine Erlebnisse auf der Leinwand festzuhalten. Dies geschah im Geheimen, erst in den 1990ern veröffentlichte er 50 Gemälde, die er in den vorangegangenen 40 Jahren gemalt hatte.

„Brotration für Dubar“ (1989) © Victims of Communism Memorial Foundation

Die Gefangenen der Gulags waren Todgeweihte in Käfigen. Auf kleinstem Raum mussten sie sich eine Baracke teilen. Neben den schwierigen Lebensverhältnissen bekamen sie auch nur eine begrenzte Ration Essen am Tag. Die Not der Gefangenen zwang sie zu einfallsreichen Ideen. Wenn es ihnen gelang, den Tod eines Baracken-Nachbarn zu verschleiern, erhielten die anderen eine extra Brotration. Auf dem Gemälde wärmen sich die Gefangenen am Feuer – sie wurden dazu gezwungen, halbnackt zum Waschhaus zu laufen und wieder zurück, auch bei eisigen Temperaturen. Jeder von ihnen geht seinen eigenen Sorgen nach – es fällt niemandem auf, dass in der unteren rechten Ecke ein Häftling im Sterben liegt. Der Tod war immer ein präsenter Gast und die Brotration, die der Tote nicht mehr benötigte, war ein Funken Hoffnung für die verbleibenden Gefangenen.

Toter Häftling

Igor Obrosov (1930-2010)

Obrosov wurde schon sehr früh mit den schrecklichen Erfahrungen des stalinistischen Terrors konfrontiert. Sein Vater wurde 1937 wegen provokanten Verhaltens verhaftet. Ein Jahr später wurde er zum Tode verurteilt und am selben Tag hingerichtet. Deshalb sind viele seiner Gemälde seinem Vater gewidmet und thematisieren die Geschehnisse der sowjetischen Repressionen. Im Alter von 24 Jahren schloss er die Kunsthochschule in Moskau ab und in den 1950ern erschienen seine Werke auf verschiedenen Ausstellungen. Dank seines Talents wurde er in die Russische Akademie der Künste als Mitglied aufgenommen und war Leiter der Union der Künstler der UdSSR. Bis zu seinem Tod war er ein gefragter Künstler, der nicht nur sowjetische, sondern auch russische Staatspreise erhielt.

„Die Zombies des Gulags“ (2000er) © Юрий Абрамочкин/РИА «Новости»

Die Tschekisten schleppen einen abgemagerten Mann über das Gelände des Gulags – ob tot oder lebendig lässt sich nicht eindeutig sagen. Wer in die Gulags kam, würde diese nicht immer lebend verlassen. Viele ließen ihr Leben bei der schweren physischen Zwangsarbeit, andere verstarben an Hunger und Willkür. Je nach Standort des Gulags, waren die klimatischen Umstände eine zusätzliche Belastung, zum Beispiel in Workuta am Polarkreis. Mehrere Millionen Menschen waren inhaftiert, mehrere Millionen erlitten denselben Schmerz und dasselbe Leid. Diese Emotionen finden sich in Obrosovs Malstil – die düsteren Farben und die simplen, aber präzisen Gesichtszüge vermitteln die bedrückte Atmosphäre, die in den Gulags herrschte. Die toten Augen aller Beteiligten spiegeln ein dunkles Kapitel der Geschichte wider.

Umgangssprachlicher Begriff für die Mitarbeiter des Geheimdienstes, angelehnt an den Begriff „Tscheka“, dem ersten sowjetischen Geheimdienst.

Eines der größten und härtesten Arbeitslager, gelegen am nördlichsten Punktes der Komi-Republik am Polarkreis.

Eigenes Gemälde

Lebe! (Olga Bolgov, 2024)

Es gibt eine Erinnerung in meiner Familie, die seit Generationen weitergetragen wird. Meine Urgroßeltern und ihre sechs Kinder wurden aus der Wolgarepublik nach Kasachstan deportiert – mein Opa war mit vier Jahren der Jüngste gewesen. Mein Uropa und sein ältester Sohn wurden in die Trudarmee eingezogen. Mein Gemälde zeigt eine Geste der Selbstlosigkeit – während er selbst am Hungern war, gab mein Uropa seinem Sohn sein letztes Brot und sprach zu ihm: „Lebe!“. Er tat es immer wieder, Tag für Tag. Und verstarb letztendlich an einem Hungertod. Sein Sohn überlebte. Es existieren keine Fotos von meinem Uropa oder seinem ältesten Sohn. Es lebt lediglich die Erinnerung weiter und es war mir wichtig, diese als Gemälde für nachfolgende Generationen festzuhalten.

Ein Traum

Mirjam Prokofieva

Mirjam Prokofieva

Wir alle haben Erfahrungen mit Verlust gemacht. So wie der Gewinn, ist auch der Verlust ein Teil des Lebenszyklus und tief in unserer Existenz verwurzelt. Manchmal ist der Glaube das Einzige, was uns bleibt – jener Glaube, der Menschen durch die Welt trägt. Doch nicht alle inspirierenden Geschichten enden glücklich. Die Geschichte der Deutschen in Aserbaidschan gehört zu diesen. Mit einem philosophischen Ansatz versucht dieses Video, eine Erzählung von Hoffnung und Verzweiflung zu schildern.

Mirjam Prokofievs Videobeitrag beleuchtet die südkaukasische Region Aserbaidschans als Erinnerungsort der Kaukasiendeutschen. Im Fokus stehen die Folgen des Stalinismus und des Zweiten Weltkriegs, die das Schicksal der deutschen Bevölkerung in dieser Region prägten. Der Beitrag zeigt, wie kulturelle Spuren dieser Gemeinschaft noch sichtbar sind, obwohl die Menschen selbst längst verschwunden sind. Eine Reflexion über Verlust, Erinnerung und die Spuren einer untergegangenen Kultur.

Ein Traum

Omas Fotoalbum Mobiler Erinnerungsort, den Repressionen zum Trotz

Kathrin Lind

Kathrin Lind

Kathrins ‚Visual Essay‘ ist ein Versuch, gedanklich in die bewegte Migrationsgeschichte der Russlanddeutschen einzutauchen. Diese Geschichte, in einem Fotoalbum verewigt, stellt sowohl sichtbare familiäre Momente als auch die unausgesprochene dazugehörige Geschichte der sowjetischen Repressionen dar. Es lädt dazu ein, einzutauchen und die Nachvollzierbarkeit für die Nachfahren zu erörtern.

Der Beitrag ist eine naive Auseinandersetzung mit der Thematik der persönlichen Erinnerungsorte der Russlanddeutschen-Geschichte, am Beispiel eines Fotoalbums der Familie der Autorin.

Dabei wird einerseits die Bedeutsamkeit eines Erinnerungsortes, der mitgenommen werden kann, betont, da es für diese Menschengruppe oft keinen festen topografischen Ort als Erinnerungsort gibt, dafür dienen Fotos aber oft als mobile Erinnerungsorte. Diese beherbergen in sich zwar meist die Familientreffen und -feiern, offenbaren auf den zweiten Blick aber auch die Orte und Geschichte der Repressionen.

Andererseits wird veranschaulicht, wie leicht sich die historischen Zusammenhänge der Fotos in Familienalben verlieren können, wenn sie nicht von Erzählungen begleitet oder verschriftlicht werden.

Omas Fotoalbum. Mobiler Erinnerungsort, den Repressionen zum Trotz

Wieso soll ein Fotobuch, voller alter Fotos von Menschen, die du nicht kennst wichtig sein?

Was ist aber, wenn dieses Fotobuch die einzige greifbare Verbindung nicht nur zu deiner Familiengeschichte, sondern auch zu all den Verwandten, von denen dich das Leben weggerissen hat, ist?

Und was ist, wenn das Buch auch die Geschichte erzählt, über die, in der Familie sonst nicht gerne gesprochen wird?

Das Buch mit der Rose drauf, ist genau das für mich – ein Fotoalbum meiner Oma, in dem ich seit klein auf, mit meiner Mutter drin geblättert habe und mir erzählen ließ, wer wie mit mir verwand ist, wo sie auf den Fotos gewesen sein mussten und wo sie heute sind. Getroffen habe ich davon kaum jemanden. Auch meine Oma nicht.

Und mit jedem Jahr konnte ich dem Album, dank den Erzählungen meiner Mutter, immer mehr Informationen entnehmen. Dies half dabei, die Geschichten der einzelnen Personen und vor allem die Geschichte meiner Großmutter, mir besser ausmalen zu können. Glücklicherweise war meine Mutter ein neugieriges Kind und hat den Erwachsenen immer viele Fragen gestellt, wodurch sie mir nun auch was nacherzählen kann.

Meine Großmutter – Agnes Haag, gehörte zu der dritten Generation der Familie Haag, Aussiedlerinnen und Aussiedler aus Baden, die in den nördlichen Schwarzmeergebieten der heutigen Ukraine zur Welt kam.

Ihre frühe Kindheit war begleitet vom Bürgerkrieg, Enteignungen, Hungersnot und dem Verlust ihres Vaters an Typhus. Dennoch bezeichnete sie, in den Erinnerungen meiner Mutter, die Zeit in der Ukraine und die Jahre mit ihrem Mann danach als die glücklichsten Jahre ihres Lebens.

Im Herbst 1941 wurde sie mit ihrer Familie nach Kasachstan deportiert, weil sie Deutsche waren. Im Frühling 1943 wurde sie vom Rest der Familie getrennt und als junge, kinderlose Frau in die Trudarmee nach Komi, UdSSR transportiert. Dort musste sie verschiedene Arbeit – von Feldarbeit über Tabaksortierung, bis hin zum Bergbau – verrichten.

An all diese Ereignisse erinnern wir uns größtenteils anhand der mündlichen Überlieferung meiner Mutter, die sie von ihrer Mutter und ihren Tanten und Cousinen und Cousins erzählt bekommen hat. Wenn es vorher schon Bilder oder gar Alben der Familie gegeben hat, sind sie während der Deportationen verloren gegangen. Agnes hat aber ein eigenes Fotoalbum angelegt, das die darauffolgenden Phasen ihres Lebens veranschaulichen kann.

Ich wusste schon immer, dass das Album recht alt sein muss, habe aber nie realisiert, dass die jüngsten Fotos des Albums bereits aus der zweiten Hälfte der 1940er Jahre stammen und somit in der Trudarmee aufgenommen wurden.

Auf den 21 Seiten des Albums fand ich eine Ansammlung aus Fotos, die nicht nur in den zahlreichen Fotofächern, sondern auch lose reingelegt waren und weder eine chronologische Abfolge noch Beschriftungen hatten.

Wenn Fotos beschriftet waren, wurde es mit der Handschrift meiner Mutter, die Angst hatte etwas zu vergessen, nachträglich gemacht. Meine Großmutter hatte wohl eher Angst, jemanden daran zu erinnern, dass all die abgebildeten Menschen repressiert waren. Und die Männer, Frauen und Kinder, die ich nur als solche auf den Bildern gesehen habe, waren an den Orten der frühen Fotografien mit feindlichen Bezeichnungen des Regimes belegt – Deutsche, ukrainische „Volksfeinde“, kasachische „Kulaken“, Kinder der „Volksfeinde“. Verschriftlichungen waren für diese Menschen wohl gefährlich.

Manche der Fotos konnten auch durch meine Mutter nicht direkt einem Jahr oder Ort zugeordnet werden.

Das früheste Bild des Albums konnte durch die Angabe der wiedergefundenen entfernten Verwandten zugeordnet werden, die sich auch um die Wiederherstellung der Familiengeschichte bemühten.

Eines Tages erhielt meine Mutter einen Anruf von einer Frau, die glaubte, dass sie verwandt sein könnten. Und nach stundenlangen Abgleichen der bekannten Namen und Daten, fanden sie heraus, dass ihre Mütter Cousinen waren und konnten füreinander die jeweils fehlenden Punkte in der Familiengeschichte und den Stammbäumen vervollständigen.

 
„Auf dem Foto bin ich, Katharina Kretz [rechts auf dem Bild] u. meine Cousine (Tochter von Friedrich Haag) [Agnes, links auf dem Bild]. Friedrich Haag war der jüngste Bruder von meinem Vater Phillip Haag. Das Foto stammt aus dem Arbeitslager Kommi (АССР [rus.]) ASSR. (1946)“ [Unterschrift]

Als meine Mutter dann ein Foto aus dem Album in Kopie an die Familie geschickt hat, hat die Cousine von Agnes – Katharina – das Foto auch einordnen können und bestätigt, dass es in der Trudarmee aufgenommen wurde.

Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr Fragen tauchen für mich auf: Wieso gab es im Lager einen Fotografen und in welchem Kontext und mit wessen Erlaubnis wurden all diese Fotos aufgenommen? Konnten die Fotos irgendwo angebracht werden oder mussten versteckt werden? Wie wurden die Fotografen entlohnt? Gab es im Lager einen festen Ort, wo die Fotos entwickelt werden konnten oder passierte es außerhalb? Haben die Menschen im Lager die Aufnahmen machen lassen, um zu erinnern oder um zu vergessen? All diese Fragen bleiben wohl erstmal unbeantwortet.

Andere Fragen können mir glücklicherweise in langen Gesprächen mit meiner Mama beantwortet oder gemeinsam rekonstruiert werden. Zu der Nachfrage, wieso sie denn das Album so gut beschreiben kann, sagte meine Mutter: „Ich kenn es [das Album] insgesamt seitdem ich denken kann und da wir weder einen Fernseher, noch Radio hatten, war meine einzige Unterhaltung [in der Kindheit] das Durchschauen von Mamas Album“.

Was wäre für mich das Album ohne diese ganzen Erzählungen und kann man die unbeschriebenen Erinnerungsorte genauso nachvollziehen?

Wäre es für mich möglich, ein Familienfoto meiner Großmutter neben irgendeinem Haus zu betrachten und zu verstehen, dass es auf den Brettern der im Sommer tauenden Permafrostböden, in Komi aufgenommen wurde? Könnte ich wissen, dass das Jahr der Aufnahme 1953 sein müsste und die Familie sich in einer Sondersiedlung für ehemalige Lagerarbeiter befindet? Würde ich selbst draufkommen, dass das glückliche Paar sich im Lager kennengelernt hat und die älteren Brüder meiner Mama Gulag-Kinder sind, die von ihrem eigenen Vater später erst adoptiert werden mussten, da im stalinistischen Terror die „Volksfeinde“ theoretisch keine Kinder bekommen durften? Auch die Tatsache, dass die Familie an dem Ort verblieb, weil sie unter dem Kommandanturregime bis Ende 1955 nicht reisen durfte, wäre mir wahrscheinlich verborgen geblieben. Und auch, dass mein Großvater bald nach der Geburt meiner Mutter verstarb und Agnes mit drei Kindern zu ihren Schwestern nach Kasachstan zog, erzählt diese Momentaufnahme nicht.

Und doch ist es alles vorhanden – die Lebensorte nach Deportationen, Aufnahmen der Familienfeiern mit Tannenbäumen und gedeckten Tischen, Wiedervereinigungen und Familienzusammenkünfte nach Trauerfällen und sogar Integration der Freunde in die Familienaufnahmen. Einzelfotos von Agnes, die über die Jahre aufgenommen wurden und auch von ihren Nichten und Neffen zur Erinnerung.

Alles wurde in dem Album gesammelt zu einer stillen Dokumentation der Normalität in den ungewöhnlichen Umständen.

Hinzu kommen handgeschriebene Gebetszettel und Fotos, die Oma vermutlich von Bekannten geschickt bekommen hat, da diese Menschen bis jetzt durch niemanden aus der Familie eingeordnet werden konnten. Klar ist nur, dass die ebenso von Schicksal der Deportation und der Arbeitslager betroffen waren.

Dieses Familienalbum ist ein Erinnerungsort, ein Vermittlungsort und ein Ort der stillen Dokumentation des Deportationsschicksals einer von vielen deportierten deutschen Familien in der Sowjetunion. Gleichzeitig teilte das Album das Migrationsschicksal der Kleinfamilie und wanderte aus der Kälte der Komi Republik über die Steppen von Kasachstan in den sonnigen Kaukasus, bevor es schlussendlich nach Deutschland kommen konnte.

Agnes hat es nicht nach Deutschland geschafft auch wenn sie es sich sehr gewünscht hat. Sie ist 1983 in Krasnodar verstorben, noch bevor sie offiziell rehabilitiert werden konnte. Und bevor ich geboren wurde.

Ihre Erinnerungen nahmen wir aber mit nach Deutschland.

Als Album mit der Ansammlung der Fotos aus verschiedenen Ecken der Sowjetunion, Gebeten, Postkarten, Tickets und allem, was sonst seinen Weg ins Album gefunden hat, dank meiner Oma. Bilder und Dinge, die Erinnerungen wecken und Nachfahren zum Nachdenken animieren.

Und als Geschichten, die meine Mutter mir erzählte und welche ich nun unbedingt verschriftlichen muss. Denn Verschriftlichungen der einzelnen Geschichten sind wichtige Bestandteile der Albumerinnerungen, besonders wenn ihre Besitzer keine hinterlassen konnten.