Bloodland Memorial

Robert Faber

Robert Faber

Robert Faber reflektiert in seinem Text über die Herausforderungen einer Erinnerungskultur, die Kollektiverfahrungen von Menschen verarbeiten könnte, die zu verschiedenen Zeiten Leid in heute umkämpften Gebieten der Ukraine erfahren haben. Er bereiste 2023 das Land und interviewte Menschen. In seinem Text thematisiert er, wie Erinnerung durch Gewalt, Krieg und Vertreibung oft nicht weitergegeben wurde, da sie von Dominanzerzählungen überdeckt wurde. Der Autor verknüpft historische Orte russlanddeutscher Gewalt- und Repressionserfahrungen mit der heutigen Situation in der Ukraine, wo erneut Krieg herrscht. Faber zeichnet eine Erinnerungskultur, die Brüche der Geschichte akzeptieren sollte und nicht simplifiziert, sondern Perspektiven, Schmerz und Ambivalenzen einbezieht.

Bloodland Memorial

Welchen der Steine du hebst –
du entblößt,
die des Schutzes der Steine bedürfen:
nackt,
erneuern sie nun die Verflechtung.

Welchen der Bäume du fällst –
du zimmerst
die Bettstatt, darauf
die Seelen sich abermals stauen,
als schütterte nicht
auch dieser
Äon.

Welches der Worte du sprichst –
du dankst
dem Verderben.

– Paul Celan (geb. 1920 in Czernowitz, Ukraine)

Wie kann eine Erinnerungskultur des Aushungerns, der Repressionen, der Okkupation, des Krieges, der Umsiedlung und der Flucht entstehen? Wie arbeitet man das kollektive epigenetische Trauma auf, wenn die Traumatisierten zumeist all ihre innere Kraft aufgebraucht haben, keine Überlieferung zu hinterlassen und sich eine sichere Heimat im Schweigen und Vergessen aufzubauen.

Die gleichen Ortsnamen, die wir heute aus den Kriegsnachrichten hören, sind Erinnerungsorte ethnischer Deutscher aus der Ukraine, ihrer Kinder und Enkel. Ihre Heimatorte sind wie damals heiße Frontlinie, ihre Fluchtwege und Deportationen bewegten sich über dieselben Straßen. Es sind überhistorische Erinnerungsorte der ewigen Wiederkehr des Gleichen – eines Verhängnisses, worum ein Kokon des Schweigens gewoben wird und das nur in alten Liedern besungen wird. Die russlanddeutschen Erinnerungsorte sind für alle Zeit untrennbar mit dem Gebiet der Ukraine verbunden, mit den Bloodlands zwischen den Imperien – eine Erinnerung, die schon immer den Vorposten einnahm, als ein Seismograph aller unterirdisch heranrückender Erschütterungen. Der russlanddeutsche Erinnerungsort ist die ukrainische Frontlinie von heute, die okkupierten Gebiete von heute, die Geschichten von Menschen von heute, die aus der Okkupation fliehen. Es sind die totgeglaubten Orte der Geschichten unserer Großeltern, die jetzt wieder auferstehen, angereichert durch eine weitere Dimension der Agonie, der Trauer und des Verstummens. Es sind die beschossenen grünen Korridore, die endlosen Karawanen auf verminten Straßen, die verschwundenen Kinder, die ausgelöschten Städte und Landstriche in ihrem Rücken. Eine Erinnerung, die in die Jetzt-Zeit einbricht, Zeitdimensionen, die sich wie Erdplatten aufeinanderschieben. Historia perennis, die ewige Wiederkehr des urzeitlichen Faschismus. Das sich durch alles Leben fortfressende Nichts der unendlichen Geschichte: Das untote Imperium verschlingt seine Grenzregionen, weil es ohne sie nicht existieren kann.

Jede Erinnerungskultur aus den Bloodlands existiert in einem Riss zwischen Erinnern- und Vergessenwollen, in einem verzweifelten Versuch, einen zum Überleben notwendigen Schutzkreis um sich, durch sich selbst hindurch, zu ziehen, um die War-Life-Balance aufrechtzuerhalten, um durch eine weitere blutgetränkte Nacht zu kommen. Es ist eine Erinnerung, die vom Territorium denkt, von den Bloodlands, in denen immer der gleiche Fluch wiederkehrt: Ein wildes, unerschlossenes El Dorado, ein mythisches Versprechen eines besseren Lebens, ein heiliger fruchtbarer Boden, eine neue Freiheit. Ein Legitimationsort, der Identitäten schafft und Herrschaftsansprüche in Stein meißelt. Immer eine Reise ans Ende der Nacht, ins Herz der Finsternis, Apocalypse now, a hell of a good universe next door. Durch die Zeiten hindurch Gewalt und Blut und Tragödie unter einem brennenden Himmel.

Die Bloodlands sind ein Ort, an dem Erinnern bedeutet, neue tödliche Wunden zu schlagen, an dem eine plastische Kraft des Vergessens entwickelt werden muss, die es den Menschen ermöglicht, nach schweren Schicksalsschlägen überhaupt weiterleben und handeln zu können, während diejenigen, die diese Kraft nicht haben, an den Wunden der Erinnerung wie an einer immerwährenden Schlaflosigkeit zugrundegehen. Die Vergangenheit muss vergessen werden, wenn sie nicht zum Totengräber der Zukunft werden soll, die gerade um ihre Geburt kämpft. Das Vergessen zieht einen Horizont des Denkbaren, macht ein Vertrauen auf das Kommende erst möglich. In diesem Rhythmus von Erinnern und Vergessen, Alarmbereitschaft und Schlaf entsteht ein kritisches Geschichtsbewusstsein, das sich mit dem gegenläufigen, widersprüchlichen Begehren der Individuen und der Kollektive auseinandersetzen muss, zugleich eine Erinnerungskultur zu schaffen und dabei vieles dem Vergessen anheimfallen zu lassen. Beide Kräfte stehen dabei in einem konfliktgeladenen Verhältnis zueinander und zugleich in einem schwierigen Gespräch mit konkurrierenden Erinnerungsstrategien, mit anderen Verhältnissen von Erinnern und Vergessen.

So kann auch eine ukrainische Erinnerungskultur in ein Gespräch mit den Minderheitengruppen treten, um eine neue kritische, post-russische dekoloniale Erzählung zu erschaffen, die Parallelen und Besonderheiten der Erfahrungen in den Bloodlands zu einem neuen Narrativ verflechten – den Hungermord, die Folter, die Okkupation, die Deportationen und die Straflager, aber auch Geschichten von Liebe und Freundschaft zwischen den einzelnen Gruppen. Eine Erinnerung, die mehr aus Mythologie bestehen muss, die, an Elemente von oraler Überlieferung anknüpfend, die schwarzen Gedächtnislöcher durch Erzählung überbrückt. Eine ferne, durchscheinende, lichtdurchlässige Erinnerung, die aus dem Parallelen-Ziehen zur Gegenwart hergestellt werden muss, zum Zweck eines Funktionierens in der Gegenwart. Die Fehlerhaftigkeit muss mitgedacht und in Kauf genommen werden; Es gilt immer, ein leichtes Stechen im Hinterkopf zu behalten, das dich auf unangenehme Weise daran erinnert, dass du etwas aus zerbrochenen Einzelfragmenten herstellst, mit einer Sperrigkeit, die sich nicht auflöst, um in “einer Kultur”, “einer Einheit”, “einer Ganzheitlichkeit” aufzugehen. Es trägt eine Weigerung mit sich, den Verlockungen zu widerstehen, die Kommodität eines von einem Medusenhaupt versteinerten Gesamtbildes abzuliefern, dabei eine fremdbestimmte Identität anzunehmen und ein leicht konsumierbares Produkt zu werden, welches man zu besonderen Anlässen bei Sektempfängen im Glashaus auspackt. Ein solches Erinnern ist immer auf dem Weg, als ein Prozess des Erzählen, jede kognitive Dissonanz aushaltend – ein ewig wandernder, ins nächste, ins übernächste heimatlose Gelände verbrachter Erinnerungsort, dessen kaltes Gesetz in den menschlichen Körpern eingeschrieben wird. Die, welche einst mit der Strafe belegt wurden, Brücken zwischen Imperien zu bauen, schlagen nur noch Brücken über Flüsse, die vergehen.

Während meiner dreimonatigen Reise in die Ukraine im Sommer 2023 stachen mir sofort die Denkmäler ins Auge, die man zu Beginn der vollumfänglichen Invasion in Februar 2022 notdürftig vor möglichen Kriegsschäden bewahren wollte. Es sind Monumente des Verborgenen, des Unzugänglichen. Monumente des Schweigens, des Schutzes deiner Geschichte vor dem Unsagbaren. Diese Schutzvorrichtung, die als Provisorium gedacht war, wurde zu einem philosophischen und ästhetischen Statement und verkörpert eine Form, die es gleichermaßen schafft, eine bittersüße Sehnsucht nach dem im Krieg Verlorenen sowie einen Prozess des Vergessens hervorzurufen, den man benötigt, um weiterzufunktionieren. Ein Stadtbild, eine Kultur repräsentiert sich nicht mehr nach außen, sondern hält inne, verharrt im “Es war schon immer so”, setzt sich den Erinnerungen in ihren Eingeweiden aus, hält den Atem an.

 

Diese Geschichte des angehaltenen Atems im Verharren der Gegenwart kann nicht mehr ohne das erzählt werden, was sie auslässt, was sie verweigert: diese sich gerade frisch formierende Erinnerungskultur ist eine Verweisgeste auf all das, was verloren und zurückgelassen wurde, auf Monumente tragischer Entscheidungen, auf all das, was nun dauerhaft abwesend bleibt, nie mehr nach Hause zurückkommt und die Menschen in ihren Träumen und Erinnerungen heimsucht. Sie zeigt nichts mehr, sie ist ein von allen Objekten entleertes Museum der Gespenster verlorener Orte. Die Erinnerung muss folglich von heute aus erlebt, muss an dem Ort gesucht werden, der immer unzeitgemäß ist, an dem die Geschichte niemals abgeschlossen sein wird, sondern sich in einer eigenen Bloodlands-Raumzeit, nach den eisernen Gesetzen der Bloodlands-Logik entfaltet, in der sich die Zeitebenen aufeinanderschieben, in der die alten Lieder und Geschichten immer nur an Bedeutung und Dringlichkeit dazugewinnen. Von den Dingen, von denen man nicht sprechen kann, kann man in der Ukraine nur noch singen – Lieder, die dich an unzeitgemäß gefallene Freunde erinnern, auch wenn du dich nicht mehr daran erinnern kannst, in welchem Weltkrieg sie fielen. Lieder über verschwundene Kinder aller Zeiten.

 

Der dritte Weltkrieg in den Bloodlands ist zugleich ein metaphysischer Weltkrieg, dessen Frontgrenzen und Befestigungsanlagen durch menschliche Körper verlaufen – feindliche Übernahmen und Konteroffensiven, Verschiebungen der Frontverläufe auf den inneren Karten, informational-psychological operations, das Lauschen nach dem Sound der Nacht, das Warten auf modernere, bessere Waffensysteme. Zusammengekauert wartest du, in welcher Gewissheit die wiederkehrende Vergangeheit als nächstes einschlägt. Das Ewig-Gestrige belehrt das Ewig-Heutige eines Besseren. Unter der Erde, in einer Zukunft, die nicht ankommt, stimmen die Menschen alte Lieder gegen den namenlosen Schatten aus der Zeit an.

 

In den Gesprächen mit Menschen, die aus der russischen Okkupation entkommen sind, stelle ich, ein Mitgebrachter aus der Russischen Welt, Fragen nach Identitätsveränderung, der selbstkritischen Neubewertung unserer Ich-Konstruktionen, Bugs und Biases unseren alten Denksystems. Reflektion der jahrzehntelangen ideologischen Subversion, Programmierungen und Konditionierungen, der Verhaltenslehren der Kälte. Wiederherstellung der Sprache, der Kultur, der alten archäologischen Schichten, die verlassenen alten Gleise entlang. Ein Sich-Zurechtfinden in den Fiktionen, in den Narrativen des Selbst und der Heimat, des Eigenen und des Fremden, des Sich-Selbst-Fremd-Werdens als Teil einer Welt, die ins Unbekannte fällt. Unsere Neue Erinnerung entsteht im Rhythmus der permanent einschlagenden Gegenwart, Explosionen in den Kathedralen, dem insektenhaften Summen von Drohnen in der Nacht. Ein Moebiusband zwischen den Zeitebenen, in dem die Vergangenheit plötzlich zum Upside Down der Gegenwart wird. Die absolute Präsenz, die jeden Gedanken überschreibt. Eine Kreuzung der Epochen.in den mitternächtlichen Sonnenblumenfeldern in den Bloodlands, an dem Utopieort, an dem einer alten Überlieferung nach jedes sinnlos ausgelöschte, vergessene Menschenleben als Sonnenblume wieder herauswächst.

 

Die Neue Erinnerung ist eine Wiedererlangung der Präsenz, des lebendes Wortes. Eine Bewegung des Körpers durch die Versteinerung, durch das Tödlich-Faktische, durch die Geschichte, die zu Granit wurde und nun wieder mühsam lebendig gehackt werden werden muss, ein Hauch, der aus dem Tod und dem Schweigen aufsteigt. Eine kritische Geschichte der Okkupation, der Vertreibung, des Verlassens und Neubeginnens hat – im starken Kontrast zur strahlenden Monumentalgeschichte und der permanent heraufbeschworener Hochkultur des Aggressors – wenig zum Vorzeigen. Diese Erinnerung leuchtet wie ein versunkener Piratenschatz in der Tiefe, und er leuchtet strahlender, je tiefer er sinkt. Sein Gewicht, seine Schwere zieht ihn immer tiefer hinab in den Abgrund. Mit brennender Lunge tauchst du an den Rand der Bewusstlosigkeit, um doch nur Reste und Glassplitter hervorzubringen. Die Erinnerung bleibt als ein Leuchten in der unerreichbar werdenden Tiefe, gefallen aus der Zeit. Sie ist ein Kampf gegen die historische Demenz, in der nur noch gelegentlich das Langzeitgedächtnis der Großmütter aus dem schwarzen Meer des Vergessens hochkommt, ein leiser Gesang mit brüchiger Stimme, der dich als einziger übriggebliebener roter Faden in die Oberwelt zurückleiten kann, während du vergisst, wer du bist, während die vertraute Umgebung ihre untote, überhistorische Dimension entschleiert. Sind die Freunde wirklich deine Freunde? Ist deine Familie wirklich deine Familie? Ein permanentes Durchtasten des feindlich gewordenen Terrains, das sich im Auflösungsprozess befindet, wo Himmelsrichtungen ununterscheidbar werden, der Himmel unter den Füßen, im endlosen Sturz in einen nimmerendenden Gleichgewichtsverlust. Die Auflösung deiner Muttersprache, das Umformen der eigenen Persönlichkeit durch eine neue Sprache, das Herausreißen der eigenen Zunge, weil sie Tod und Vernichtung spricht. Wenn deine Persönlichkeit die Orientierung in Raum und Zeit verliert, führt jede Handlung zu gravierenden Konsequenzen. Dein Haus ist nicht mehr dein Haus. Hinter jeder Ecke lauert Verrat. Der, der am Tag zu dir kommt, kann in der Nacht kommen, um dich zu holen. Welches Wort du sprichst, du dankst dem Verderben.

Ich erinnere mich an einen Moment, als ich auf den Markt gegangen bin. Ich musste dem Hauskater unserer Verwandten Futter kaufen. Und ich sehe totalen Kollaps, wir hatten Riesenschlangen für Katzenklos. Deine Welt bricht zusammen, wenn du es gewohnt bist, dass sich deine Stadt entwickelt und du plötzlich Leute siehst, die Sachen auf einem Klappbett verkaufen oder einfach am Straßenrand, auf einem Karton – einfach nur alles, was sie haben, es ist so ein vorzivilisatorischer Zustand. Und dann laufen da diese Okkupanten rum, sie unterscheiden sich durch weiße Armbinden, während man unsere Leute an gelb-blauen Armbinden erkennt. Und dann kommt er rein, er hat Augen aus Glas, wir begegnen uns Stirn an Stirn, unsere Blicke treffen sich. Ich bin wie gelähmt vor Angst, ich realisiere nur: man darf keine schnellen Bewegungen machen, man darf nicht rennen, man muss ganz ruhig rausgehen. Ich bin raus, setze mich ins Auto und fühle mich, als hätte man mich mit eiskaltem Wasser übergossen. Er kann dich mitnehmen, irgendwohin bringen, dir irgendwas antun, nur weil ihm einfach so ein Gedanke in den Kopf schießt. Das war genau die Zeit, als Butscha stattfand, mit all den Vergewaltigungen, als all das öffentlich wurde. Du bist ein Mensch und projizierst es auf dich: sie können das gleiche auch dir antun. Das ist ein Leben in permanenter Angst, du weisst, dass dich jemand holen kommen kann, dass ihnen deine Position nicht passt. Nur von diesem Gedanken allein kannst du wahnsinnig werden, dich selbst innerlich auffressen.

 

Und wenn deine Freunde abgeholt werden, und so wie Wlad, der schon ein Jahr lang in Gefangenschaft ist… Sie machen einen Gerichtsprozess mit ihm, sie veröffentlichen Videos mit ihm. Das ist ein anderer Mensch jetzt, das ist nicht mehr sein Gesicht, mit gebrochener Nase… Sie bearbeiten Leute mit Stromschlägen, sie tun ihnen furchtbare Dinge an. Sie können dich einfach abholen, dich auf eine Flasche setzen, dich zwingen, die russische Hymne zu singen. Dich einfach von der Straße holen. Einen Jungen haben sie einfach von der Straße geholt und jetzt stottert er. Einfach weil sie jemanden gebraucht haben, man muss ja irgendwelche Verräter finden. Sie gehen einfach die Straße entlang und fragen eine Oma, die sie treffen: “Wer hat hier gesagt, dass die Ukraine super ist?”. Und die sagt dann: “Da hinten, Walera”

Es gibt nicht viele Wörter der Erinnerung, deren Bedeutung nicht korrumpiert ist, die auf ein Fehlen verweisen, eine Leerstelle, ein schwarzes Loch, das innerlich ausbrennt, eine wortlose schweigende Suche ohne Begriff, ohne Bezug, ohne Erinnerungsort, ohne Namen. Eine Zone des kalten Schweigens, des Schlafes der Vernunft, der Ungeheuer gebiert. Ein Gelände mit der untrüglichen Spur, die sich hinter jede Vorstellung eines Horizonts zurückzieht und von diesem Nicht-Ort als Asche hinaufsteigt.

Hiraeth: Ein Überbleibselwort aus einer in einem Imperium unterdrückten, als primitiv belächelten, nahezu untergegangenen Sprache, des Walisischen. Eine unübersetzbare, nicht von ihrem Herkunfstort trennbare Sehnsucht nach einem verlorenen Gefühl von Zuhause, von Gerüchen-, von einem besonderen Geschmack, nach der Kindheit lange verstorbener Generationen. Doch, was, wenn das zu Hause von Kindesbeinen an niemals ein Ort des Friedens war, sondern ein Ort, der dir niemals eigen war, sondern immer eine Heimat im Unheimlichen, heimgesucht von hungrigen Gespenstern, denen keine Ruhestätte vergönnt war. Ein Ort, der niemals mehr zugänglich sein wird. Eine heiße Frontlinie, durch Sonnenglut zu Asche, zu Staub versiegelt. Das Zuhause im Feindesland, leblos und ausgebrannt. Geh und sieh! Es ist unbewohnbar, eine Zone ohne Zutritt für Erinnerungen. Dein neues Zuhause: Der Weg raus, im Schweigen, im Gebet. Kilometer ohne Karte. Blockposten um Blockposten, Opfergabe um Opfergabe, immer leichter werdend, durchkreuzt du die Vernichtung.

Die Russen benahmen sich in der Stadt so, dass es klar war, dass sie wissen, dass sie keine Bestrafung zu befürchten haben. Ich hatte eine Bekannte – sie ist raus, ich hab keinen Kontakt mehr zu ihr – sie arbeitete im Krankenhaus. Sie hat mir gesagt, dass in den ersten zwei Tagen schon elf Fälle von getöteten und vergewaltigten Frauen festgestellt wurden. Aber auf den ersten Demonstrationen haben sich die Russen nichts erlaubt. Sie hatten den Befehl, das Administrationsgebäude zu bewachen und wenn wir nicht auf sie zugekommen sind, so wie das bei den späteren Demos im Frühling passiert ist, so standen sie nur da und haben nichts gemacht. In der Stadt hatten wir die Nationalgarde. Außerhalb der Stadt war dann natürlich so ein Gesindel, dass schon ihr Anblick allein wehgetan hat, man wollte ihnen vor Mitleid Geld geben, denn sie hatten 32 Zähne verteilt auf die ganze Kompanie, wie aus einem Alptraum.

 

Mitte März sind dann die ersten Leute verschwunden. Man hat angefangen, die Leute bei den Aufmärschen einzufangen. Als schon sehr viele Leute demonstriert haben und es Jungs gab, die auf die Nationalgardisten losgelaufen sind, hatte der FSB genug davon. Dann haben die Nationalgardisten mit Rauchgeschossen auf die Demonstranten geschossen und der FSB hat die Leute in Mikrobussen eingefangen. Und wir alle haben verstanden, dass sie dann ins Gefängnis gesteckt wurden. Dieses ganze Viertel gehörte komplett dem FSB, dort war das SBU-Gebäude, wo sich der FSB einquartiert hat, das Gefängnis und eine Sportschule. Eine der größten Folteranstalten war dort – im Gefängnis und im Gefängniskeller. Als unsere Leute die Stadt zurückerobert haben, waren das die ersten Folterkeller, die gefunden und untersucht wurden0. Wir hatten zehn oder zwölf davon in der Stadt, die man gefunden hat. Ein Journalist sagte, wir halten damit einen landesweiten Rekord noch vor Butscha und Irpin.

 

Mein Onkel wurde Anfang März nicht in den Keller, sondern nach Tschornobaiwka gebracht. Sie hatten dort ihre Höhle mit allen furchtbaren Assoziationen, die man mit diesem Wort verbinden kann: zerbombtes Gebiet, totale Anarchie, Russen machen dort was sie wollen. Mein Onkel wurde dorthin zum Flughafen gebracht, wurde geschlagen. Ich weiß nicht, wie man es nennt: man legt jemanden auf ein Bett, legt ihm ein Handtuch aufs Gesicht und schüttet Wasser drüber. Man kann im Prozess ersticken. Das wurde mit ihm gemacht, man hat neben den Ohren geschossen, andere vergleichbare Methoden. Er stand in der Nähe von Eisenbahngleisen, dann hat ihn jemand angerufen, die Russen haben es gesehen und haben gedacht, er würde Eisenbahngleise photographieren. Dann haben sie ihn verhaftet und ihn mitgenommen unter Diversionsverdacht. Dann wurde er später zum Blockposten nach Tschornobaiwka selbst, die Stadt, nicht den Flughafen, zurückgebracht. Dort wurde er nochmal zusammengeschlagen und dann ist er zu Fuß nach Hause gegangen. Mein Vater hat es am nächsten Tag erfahren und ist zu ihm gegangen. Sein halber Körper war blau, aber er lebt und ist gesund. Man hat ihn mehr so “als Warnung” zusammengeschlagen und hat noch versucht, irgendwelche Informationen aus ihm rauszukriegen, aber er hat natürlich überhaupt keine Informationen, da gab es nichts zu holen.

 

Ich habe Angst bekommen, als ich aus der Stadt rausgefahren bin. Da gab es ein paar Momente – du hast beim Rausfahren einen Plan, du weißt, wie andere Leute rausgefahren sind, aber du hast kein Gespür dafür, welche Gefahr in Wirklichkeit hinter jeder Ecke lauern könnte. Und noch ein Moment am zweiten Tag als wir rausgefahren sind: in meinem Auto sind neben mir zwei Leute, zwei Hunde und vier Katzen rausgefahren – und ein ganzer Haufen Sachen. Es hat sich so ergeben, dass die zwei Leute und zwei Hunde aus dem Auto rausgegangen sind und hinter dem Horizont verschwunden sind. Ich weiß nicht wo sie sind und die Autokolonne hat in diesem Moment angefangen, sich in Bewegung zu setzen. Ich hatte die Wahl – entweder fahr ich weiter und rette ganz sicher mein Leben oder ich drehe um und suche sie. Da hatte ich Angst, das kann ich nicht leugnen.

Die Suche nach dem Hiraeth der Bloodlands ist ein Tauchen nach Scherben des Sagbaren unter ewiges Eis. Mit einem Mund, dem die Sprache genommen wurde, nach allem greifend. Ein Mund, der nicht gehorchen will, dessen Wörter auf vereiste Erde fallen und zerschellen. Eine Zunge, die herausgerissen wird, weil sie Feindespräsenz in sich trägt, die sich bis in die Eingeweide frisst. Hungrige Erinnerungen aus fernen Leben beugen sich nachts über dich, schwarz-weiße Namenlosigkeiten kriechen aus ihren vereisten Erdlöchern.

Die ersten Tage waren wir im Keller. Von Tag eins an wohnten wir nicht mehr zu Hause, weil es gefährlich war. Wir waren in einem Eigenheim mit Keller, bei unseren entfernten Verwandten, zusammen mit mehreren Familien. Jetzt verstehe ich, dass der Keller mehr eine Selbstberuhigung war, er wäre unser Grab geworden, wenn wirklich was passiert wäre und wir verschüttet gewesen wären. Aber wir haben ein Auto über den Eingang gestellt – falls das Dach einstürzt, fällt es auf das Auto und dann können wir rauskriechen – wir sind wirklich in so einen Überlebensmodus übergegangen. Melitopol wurde vom ersten Tag an bombadiert, es gab Treffer bei militärischen Objekten, auf dem Flughafen. Wir haben das alles gehört, der erste Morgen begann direkt damit. Wenn du im Keller sitzt, weißt du nicht, wann etwas angeflogen kommt und wann es losgeht. Jetzt weiß man, wenn man hier einen Luftalarm hat, wo man in einen Schutzbunker gehen kann, alles ist organisiert. Dort gab es das nicht, da hast du es erst nach dem Treffer erfahren und das konnte in jedem Moment sein. Du hörst es und du rennst, du lässt die Kinder fallen, vergisst alles. Wir hatten Kinder bei uns, der Kleine war ein Erstklässler, ein sehr aktiver Junge. In der zweiten Woche waren wir unter Beschuss, alles bebte, es fiel Staub auf unsere Köpfe von der Decke. Und dann sitzt er da mit Augen so groß wie Fünf-Kopeken-Münzen und ist komplett still. Er steht unter Schock. Unsere Kinder sind so erwachsen geworden und sie sind unrechtmäßig erwachsen geworden.

 

Wir sind nur hin und her gelaufen. Es gab kein Mobilfunknetz. Wir haben uns im Keller eingerichtet. In der Ukraine sind die Keller ein Ort, wo man konserviertes Essen wie eingelegtes Gemüse auf Regalen aufbewahrt. Wir haben dort alles mit Styropor ausgelegt, haben Decken, Kissen und Matratzen hingelegt, Wasser und irgendwelche Lebensmittel runtergenommen. Wir haben die Konservengläser alle in die Ecken gestellt und haben jede Nacht auf den Regalen geschlafen. In einer Nacht schien es ruhig zu sein und wir haben uns getraut, nach oben zu kommen und im Haus zu schlafen. Aber wir hatten so riesige Angst, im Bett zu schlafen, wir haben uns direkt auf dem Boden im Eingangsraum hingelegt. Es gibt “die Regel der zwei Wände”, du sollst durch zwei Wände geschützt sein, wenn es einschlägt. Wir lagen alle da zwischen den Wänden mit vollgepackten Taschen, damit wir wieder schnell runterrennen können, mehrere Familien.

Dies ist kein Erinnerungsort, dies ist eine Wolfzeit der verlorenen Kinder und zurückgelassenen Hunde. Das noch warme Brot im Ofen. Dein Leben, reduziert zu einem Koffer mit deinem Namen. Ein zerfetztes Buch mit herausgefallenen Seiten. Die Geschichten eingefroren in für immer verlassenen Spielzeugen.

 

Es ist Nacht. Verborgen hinter zwei Wänden beugst du dich über der Karte der Ukraine, die wieder rot ist. Der Schlaf ist erstochen von Träumen. Eine weitere rote Nacht in den Bloodlands, in den alten Liedern der Sonnenblumenfeldern, unter der Erde, die sich wieder gefaltet hat: im Donner, im Summen der Insekten, der Sonnenglut, im Stellungskrieg zwischen Vergangenheit und Zukunft, Erinnern und Vergessen. Unter den Steinen, die niemand heben wird. Im Licht einer Kerze, die langsam runterbrennt, wie gestern und vorvorgestern..

Hoffnung im Gepäck – Die Familienbibel meiner Großmutter

Tatjana Baal

Tatjana Baal

Meine Brücke in die Vergangenheit: Die Bibel, durch die ich meine Großmutter kennenlernte.

In ihrem Essay begibt sich Tatjana Baal auf Spurensuche in der eigenen Familiengeschichte. Ausgangspunkt für ihre Nachforschung ist die Familienbibel ihrer Großmutter. Im Dialog mit ihrer Mutter zeichnet sie das Leben und vor allem die Repressionen, die ihre Großmutter als Deutsche in der Sowjetunion erlitt und deren Spätfolgen nach. Dabei stellt sich die Frage: Wie haben Menschen das Leid überlebt? Was gab Ihnen Kraft und Hoffnung? Anhand der Geschichte ihrer Großmutter veranschaulicht sie exemplarisch, welche Rolle dabei dem Glauben zukommt.

Hoffnung im Gepäck - Die Familienbibel meiner Großmutter

Ich musste mich früher auf Zehenspitzen stellen, um sie zu sehen. Offen zugänglich lag sie da, immer am gleichen Platz. Ich nutzte sie nicht aktiv, es war mehr ein Fall von „gucken, nicht anfassen“. Doch je älter ich wurde, desto häufiger fiel mein Blick auf dieses alte Buch. Die Familienbibel meiner Oma.

Wenn ich Omas Bibel heute in den Händen halte, bekomme ich eine Ahnung davon, welche Reise sie hinter sich hat. Die vergilbten Seiten drohen sich vom Buchrücken zu lösen. Die abgeriebenen Ränder des Einbands.

Ich habe meine Oma nie kennengelernt. Ich kam am 07.03.1993 in Deutschland zur Welt, Sie verstarb am 30.06.1993, wenige Monate später.

Je mehr ich über die Geschichte der Russlanddeutschen lernte, desto mehr stellte sich die Frage: Wie genau war es bei meiner Oma? Lange wusste ich nur, dass sie gläubig war – die abgegriffene Bibel in meinen Händen der Beweis. Dass sie, weil sie Deutsche war, während des Krieges im Arbeitslager war. Dass sie früh krank wurde und meine Mutter daher früh begann sie zu pflegen. Dass sie ihr Schicksal mit solch einer Würde und Stärke trug – die angesichts ihres Leids kaum zu begreifen war. Dass diese Stärke in ihrem tiefen Glauben wurzelte.

Es wuchs das Bedürfnis, mehr zu erfahren; über ihr Leben, das meiner Mutter. Und meine Familiengeschichte – als Teil der russlanddeutschen Geschichte – besser zu verstehen. Es ist, als hafte die Geschichte der Bibel an. Sie macht Vergangenes symbolisch sichtbar, Unbegreifliches greifbar und holt Vergessenes zurück. Jahre haben Spuren auf ihr hinterlassen. Diese Spuren möchte ich im Dialog mit meiner Mutter nachverfolgen.

 

Kindheit und Jugend

1921. Am 30. Dezember wird Maria Beck in der Wolgarepublik geboren. Sie lebt mit ihren Eltern und fünf Geschwistern in dem kleinen deutschen Ort Kurnava, Oblast Saratow. Die gesamte Familie lebt in bescheidenem Wohlstand mit mehreren Generationen in einem Haus. Sie führt ein frommes Leben. Der protestantische Glaube bildet das Herz der familiären und dörflichen Gemeinschaft. Ihre frühe Kindheit ist unbeschwert.

Haus in Kurnawa

Im Jahr 1931 ändert sich die Lage. Stalins Kollektivierung erreicht die Wolgarepublik und sorgt für Angst, Hunger und Schrecken. Die Familie erkennt, dass Widerstand gegen die Maßnahmen sinnlos ist. Um nicht deportiert zu werden, schließen sie sich dem Kolchos an. Diese Jahre der konstanten Bedrohung und Angst prägen die zehnjährige Maria dauerhaft.

Insgesamt kommt Omas Familie vergleichsweise glimpflich davon. Nach dem Beitritt zum Kolchos beruhigt sich die Situation. In den folgenden Jahren leistet Oma schwere Arbeit, dennoch erlebt sie eine glückliche Jugend.

Deportation

Oma ist 19 Jahre alt, als Deutschland im Juni 1941 die UdSSR überfällt und damit auch hier der Zweite Weltkrieg ausbricht. Man hatte sich im Dorf bereits Sorgen gemacht, was mit den Sowjetdeutschen geschehe, wenn Nazi-Deutschland angreift. Viele Männer dienen zu dem Zeitpunkt bereits in der Roten Armee und kommen direkt an die Front. So auch Omas damalige Jugendliebe. Ihn wird sie erst Jahre später wiedersehen.

Es gehen Gerüchte um, dass die Sowjetdeutschen weg sollen. Aus der Befürchtung wird tragische Realität: „und dann wurde im September offiziell gesagt, dass sie ein paar Tage Zeit haben sich mit Handgepäck fertig zu machen“. Dieses bestand aus etwas Kleidung, Lebensmitteln und – der Bibel.

Von nun an begann ein langer Überlebenskampf. Das Ausmaß des Schreckens der Deportation ist kaum zu begreifen.

Deportationsschein

Omas Familie wird in das Gebiet Omsk deportiert. Sie werden in Viehwaggons eingepfercht. In den ersten Tagen geraten sie unter Beschuss deutscher Bomber, bis sie sich von der Front entfernen. Die Züge stehen teilweise tage-, gar wochenlang, weil Frontzügen Vorfahrt gewährt wird. Schnell ist das bisschen Proviant verbraucht.

Neben Hunger verschlechterte sich die Hygiene. Es gab keine Toiletten und keine Waschmöglichkeiten: „aus irgendwelchen Lappen oder wenn jemand eine Decke hatte, haben sie probiert, so eine kleine Ecke zu machen, wo man ungestört oder ungesehen sein konnte.“ Das Fehlen jeglicher Privatsphäre stellte eine enorme psychische Belastung dar.

Auch die Grausamkeit und Willkür der Wachen hinterlassen seelische Wunden.

Hinzu kommt die Kälte: „Die kamen irgendwann im November da an. Und November ist in Russland, in Sibirien schon ordentlich kalt.“

Zwei Monate dauert diese Odyssee. Angesichts der menschenunwürdigen Verhältnisse erkranken und sterben viele.

Wie durch ein Wunder bleibt Omas gesamte Familie am Leben und beieinander:

„[sie] kamen zwar krank da an, mit Erkältungen, mit anderen Problemen. Aber sie waren am Leben.“

Arbeitslager

Angekommen in Barwenawka, einem Dorf, 170 km entfernt von Omsk, wird die Familie auf engstem Raum – 15 Menschen auf ca. 40qm – untergebracht. Doch alles was zählt ist überlebt zu haben. Nach den Strapazen der Reise „waren sie froh darüber, dass wenigstens ein Ofen da war. Man konnte heizen und das war schon viel wert zu der Zeit.“ Man unterlag einer strengen Meldepflicht und durfte sich nur geringfügig von dem Ort entfernen. Nur zwei Monate Zeit hat meine Oma, um etwas zu Kräften zu kommen. Sie und ihre kleine Schwester Emma, 16 Jahre alt, werden im Januar 1942 in die Arbeitsarmee einberufen, weil sie Deutsche sind.

Ihre zwei größten Feinde hießen erneut Hunger und Kälte. Sie und ihre Schwester kamen in ein Lager in Omsk. Zur Zwangsarbeit waren es oft einige Kilometer Fußmarsch hin und zurück. Sie schliefen in undichten Baracken, die kaum Schutz vor Nässe und Kälte boten. Nasse Arbeitskleidung trocknete nicht und musste am nächsten Morgen wieder nass angezogen werden.

Einmal in der Woche durften sie die Banja besuchen, ein Ort, wo man sich waschen konnte und es warmes Wasser gab. In der Theorie gab es einen Arzt. Der habe sie jedoch nicht als krank angesehen, sondern als faul. Hinzu kam die allgegenwärtige Gefahr sexualisierter Gewalt.

„Wenn [da] eine hübsche Frau war und irgendwelche Aufseher irgendwas wollte, da wurde nicht großartig gefragt.“

Unter diesen Bedingungen musste über Jahre Schwerstarbeit geleistet werden. Unterernährung, fehlende Hygiene und Erschöpfung führten zu Krankheiten. Viele kamen nie aus dem Lager zurück. Oma und Emma überlebten.

Das Leben danach

15 Jahre verbringt Oma in der Arbeitsarmee. Nach Stalins Tod 1953 verbessern sich die Bedingungen im Lager etwas. Doch als Deutsche untersteht Oma einer Meldepflicht und darf Omsk nicht verlassen. Erst 1956 endet die Kommandantur.

Sie ist 35 Jahre alt, als sie zu ihrer Familie nach Barwenawka zurückkehren darf. Dort trifft sie auch ihre Jugendliebe Iwan. Auch er überlebte. Bei ihrem Wiedersehen hatte Oma bereits ihren 1954 geborenen Sohn Wladimir. Iwan war geschieden und hatte seinen Sohn aus erster Ehe verloren.

Als beide wieder in Barwenawka sind, geht alles ganz schnell. Noch im selben Jahr wird geheiratet. 1958 wird Alexander geboren. 1960 ziehen sie nach Poltawka. Im selben Jahr kommt Andreas, 1961 Olga und 1963 kommt Lydia, meine Mama zur Welt. 1966 noch ihr Bruder Viktor. Das Leben geht weiter.

„Man hatte das Gefühl, wenn man zurückdenkt, dass die Natur zurückholen wollte, was quasi verloren war in den ganzen Jahren.“

Familienfoto

Die Familie lebt mit ihren „Haustieren“ – Kühe, Schafe, Schweine und Hühner – als Selbstversorger ein vergleichsweise unbeschwertes Leben. Mit der vorwiegend russischen Nachbarschaft verstehen sie sich gut, auch materiell mangelt es ihnen an nichts Wesentlichem. Der Lebensstandard verbessert sich langsam.

„Wir hatten eigentlich eine gute Kindheit. Wir mussten zwar auch viel mithelfen – im Garten oder auch die Tiere versorgen – aber trotzdem hatten wir eine sehr gute Kindheit. Bis zu dem Zeitpunkt, wo meine Mama krank wurde. Und da war es vorbei mit Kindheit und mit gutem Leben.“

Krankheit

1975 wird Oma krank. Sie ist zunehmend eingeschränkt in ihrem Bewegungsvermögen, hat chronische Schmerzen und ist auf Pflege angewiesen. Mama ist zu dem Zeitpunkt gerade mal zwölf Jahre alt und plötzlich für ihre Mutter (mit-)verantwortlich. In den ersten zwei Jahren der Krankheit kann Oma noch kleine Aufgaben im Haushalt übernehmen, gelegentlich kochen und die anfallenden Arbeiten koordinieren.

Doch ihr Zustand verschlimmert sich. Nach einem Haushaltsunfall 1977 kann sie nicht mehr gehen. Ende 1980 erleidet sie vermutlich eine Art Schlaganfall; „das wurde damals nicht ärztlich geklärt, sie war pensioniert und das interessierte auch niemanden. Hausbesuche von Ärzten waren nicht üblich.“

Opa wendet sich dem Alkohol zu und ist keine Unterstützung.

Woraus schöpft man Kraft und Hoffnung? Was gibt einem Halt in Zeiten unermesslichen Leids?

Glaube

Seit Mama sich erinnern kann, durchdringt der Glaube ganz selbstverständlich, fast beiläufig, den familiären Alltag. So wie Oma es kennt, führt sie den Glauben in ihrer Familie fort: regelmäßig wird gebetet, aus der Bibel vorgelesen. Der Sonntag ist heilig: bis auf das Nötigste darf keinerlei Arbeit verrichtet werden. Deutsche Kirchengesänge bilden die Melodie von Mamas Kindheit:

 „[Oma] konnte unwahrscheinlich schön singen und sie hatte immer diese göttlichen Lieder gesungen. Ich bin aufgewachsen, das war für mich wie Radio.“

Die Kinder werden heimlich getauft. Da Religion in der Sowjetunion offiziell verboten ist, fahren sie dafür mit der Pferdekutsche in das 70 km entfernte Issilkul, wo es einen Mann gibt, der die Kinder taufen kann. Es wird nicht darüber geredet, aus Angst, die Kinder könnten sich verplappern.

Da es keine offiziellen Gebetshäuser gibt, treffen sich manche Menschen heimlich, um gemeinsam ihren Glauben zu praktizieren. Werden sie erwischt, drohen ihnen Gefängnisstrafen und sozialer Ausschluss. Oma geht nicht zu solchen Treffen.

Während Mama den Glauben ihrer Mutter als Kind unhinterfragt mit(er-)lebt, beginnt mit Omas Erkrankung eine bewusstere Auseinandersetzung. Je größer die Herausforderungen werden, desto mehr wendet auch Mama sich an Gott:

 „Das war für mich unwahrscheinlich schwer. Wenn ich sie behandeln und mich zusammenreißen musste, um nicht zu zeigen, dass es mir unwahrscheinlich wehtut oder nicht in Tränen auszubrechen. Und gerade in solchen Momenten habe ich oft gedacht: Lieber Gott, bitte gib mir Kraft, dass ich nicht zusammenbreche, dass ich das durchstehe – dass sie das nicht mitkriegt, wie schlimm es war.“

Den Glauben, der Oma Deportation und Arbeitslager überstehen und auch ihre Krankheit mit Würde ertragen lässt, gibt Oma weiter. Er gibt ihr Zuversicht, Trost und Hoffnung. Als Oma ihr Bett nicht mehr verlassen kann, liegt die Familienbibel stets bei ihr.

Gemäß familiärer Tradition wird die Bibel im Todesfall an die jüngeren Geschwister weitergegeben. Nachdem Oma im Jahr 1993 stirbt, bekommt ihre Schwester Emma die Bibel. Als Mama 1995 bei ihr in Russland ist, bietet Emma ihr an, die Bibel zu nehmen. Ihre eigenen Kinder hätten keinen Bezug dazu. Hinzu kommt, dass ihre Tante Emma „wohl meinte, dass ich jetzt in der Heimat bin. Alleine aus dem Grunde wollte sie, dass [die Bibel] nach Deutschland geht, woher sie auch kam. Und ich glaube das war für sie Grund genug, dass ich das Buch bekomme.“

Schluss

Meine Mutter bringt die Bedeutung der Bibel für uns heute auf den Punkt. Und da ihre Generation viel zu selten gehört wird, möchte ich sie am Ende zitieren:

„also für mich ist es so – ich würde schon fast sagen wie ein Ort, wo ich mich begeben kann, wenn ich [die Bibel] in die Hand nehme. Das verbindet mich mit Russland, mit Friedhof von Russland, mit Eltern, mit Kindheit – mit allem. Das ist für mich so alles in einem – nicht nur Bibel, nicht nur Buch, nicht nur irgendwelcher Gegenstand. Die Bedeutung ist in allem viel viel größer. Sie muss nicht unbedingt gelesen werden, es reicht auch, wenn man sie einfach in die Hand nimmt und einen gewissen Zeitraum hält und in sich hinein geht. Und dann legt man sie wieder da wo sie liegt. Ich bin froh darüber, dass ich [die Bibel] hab. Ich hab nicht viel von meinen Eltern an Gegenständen. Was in der Seele ist, das ist was ganz anderes, aber Gegenstände sind auch wichtig. Und [die Bibel] ist eigentlich das Wertvollste und Wichtigste.“