Einfach „Fritz“ statt „Faschist“ – Das ehemalige Aussiedlerheim in Bischofswerda

Angelika Ortner

Angelika Ortner

Das Ende von Repressalien der Sowjetunion gegenüber Russlanddeutschen und zugleich den Start in ein neues Leben stellt u.a. das ehemalige Aussiedlerheim in Bischofswerda dar, welches in diesem Video von Angelika Ortner thematisiert wird.

Angelika Ortners Videobeitrag führt zurück in ein Aussiedlerheim in Bischofswerda, wo sie als Kleinkind lebte. Gemeinsam mit ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohnern reflektiert sie das Leben in diesen Heimen, die für Russlanddeutsche die ersten Wohnorte in Deutschland waren. Diese “Lager” prägten die ersten Erinnerungen vieler Spätaussiedler an ihr neues Leben und bilden eine wichtige kollektive Erinnerung in ihrer Biografie. Der Beitrag zeigt, wie diese Orte emotionale Brücken zur Vergangenheit schlagen.

Einfach „Fritz“ statt „Faschist“ – Das ehemalige Aussiedlerheim in Bischofswerda

  • Bulanow, A. 2024, August 23. Persönliches Interview.
  • Bulanow, H. 2024, August 23. Persönliches Interview.
  • Bulanow, P. 2024, August 26. Persönliches Interview.
  • Dering, E. 2024, August 23. Persönliches Interview.
  • Feuerwehrschutz Maschner. 2012. Flucht- und Rettungsplan. Oberdorf.
  • Giesbrecht, A. 2024, Juli 24. Persönliches Interview.
  • Haufe, K. 1993, August 31. Erster Schultag – und Witali versteht nur wenig Deutsch. Aussiedlerkinder werden in der Grundschule Süd gleich voll einbezogen. Sächsische Zeitung. Seite 9.
  • Herrmann, F. 1992, August 11. Bischofswerda begrüßt die ersten GUS-Aussiedler. ,,Nie wieder als ein elender ,Fritz’ gelten müssen”. Sächsische Zeitung.
  • L. 2024, August 14. Persönliches Interview.
  • Mann, V. 1994, Januar 12. Nach langem Weg endlich im neuen Zuhause angekommen. 71 deutschstämmige Aussiedler fanden vorige Woche in Bischofswerda Aufnahme. Sächsische Zeitung. Seite 9.
  • Mickisch, J. 1994, Februar 17. In der neuen Heimat zur Welt gekommen. Nachgefragt: Wieviele Aussiedler und Asylbewerber? Sächsische Zeitung. Seite 9.
  • Müller, L. 2024, August 30. Interview.
  • Naß, G. 1993, Februar 19. Künftig mehr Platz für Aussiedler in der Stadt. Sächsische Zeitung. Seite 9.
  • Reinsch, I. 2007, März 2. Werkzeug wächst in Bischofswerda. Sächsische Zeitung.
  • Reuß, M. 1992, April 6. Asylfrage bedarf dringend einer politischen Lösung. Erstes Domizil für Aussiedler entsteht in der Kreisstadt. Sächsische Zeitung. Seite 9.
  • Sächsische Zeitung. 1992, September 3. Asylbewerber möchten einer Arbeit nachgehen. Stadtväter und Informationstour in den Heimen. Seite 11.

Glaube als Zufluchtsort. Wie Religion dem Kommunismus trotzte

Natalja Böhm

Natalja Böhm

„Religion vs. Kommunismus – Von einem System, welches versuchte, eine Familie in die Knie zu zwingen und von dem eisernen Willen, dem Kommunismus die Stirn zu bieten.“

„Religion vs. Kommunismus – Von einem System, welches versuchte, eine Familie in die Knie zu zwingen und von dem eisernen Willen, dem Kommunismus die Stirn zu bieten.“

In ihrem multimedialen Projekt beleuchtet Natalja Böhm, wie Russlanddeutsche in freikirchlichen Gemeinden trotz staatlicher Repressionen ihre Identität als gläubige Christen bewahrten und Anpassungsstrategien entwickelten. Mithilfe von Fotografien, Dokumenten und Interviews wird das Gemeindeleben in einem religionsfeindlichen Umfeld des sowjetischen Systems dargestellt. Sie zeigt wie die Erfahrungen der staatlichen Verfolgung bis heute Russlanddeutschen prägen, die in freikirchlichen Strukturen aktiv sind und wie sie ihre kollektive Identität formen.

Glaube als Zufluchtsort. Wie Religion dem Kommunismus trotzte.

Abb. 1: Pfingstgemeinde Mitte der Achtzigerjahre in Bila Zerkwa, Ukraine. Vorne in der Mitte ist die Interview-te Larissa zu sehen. Auf dem Banner steht geschrieben: „Christus ist auferstanden“. Quelle: Privatbesitz.

Die Geschichte des Kommunismus in den sowjetischen Staaten ist eng mit dem Kampf gegen den Glauben verknüpft. In den frühen Jahren der Sowjetunion war man der Ansicht, dass sich das Thema Religion von allein erledigen würde. Die Bolschewiki gingen davon aus, dass die Menschen durch die revolutionären Veränderungen keinen Trost mehr in der Kirche suchen müssten. Daher sahen sie zunächst auch keinen Grund, die Gläubigen aktiv zu verfolgen. Als es nicht gelang, die Partei als ‚Ersatz‘ für die Religion zu positionieren, wurden schließlich härtere Maßnahmen ergriffen. Insbesondere unter Stalin wurde mit aller Härte gegen Gläubige vorgegangen: Im Zuge der Kollektivierung wurden sie verhaftet und deportiert – ganze Gemeindestrukturen wurden so aufgelöst. Die Pfingstbewegung, um die es in diesem Beitrag gehen soll, entstand in Russland ab 1922. Ab 1929 gerieten sie ins Visier der Verfolgung – während des Großen Terrors wurden ihre Strukturen zerschlagen, ihre geistlichen Führer verschwanden in Stalins Lagern. Das religiöse Leben wurde auf den privaten Raum beschränkt und in den Untergrund gedrängt. Man realisierte jedoch, dass es nicht gelingen konnte, die Religion zu tilgen. Aus diesem Grund wurde eine Institution geschaffen, die die Gläubigen kontrollieren sollte: der „Rat für Angelegenheiten der Religionen beim Ministerrat der UdSSR“. Dieser setzte die staatlichen Maßnahmen gegenüber den Religionsgemeinschaften um.

In der Chruschtschow-Ära kam es zu erneuten Religionsverfolgungen – diesmal mit einem verstärkten Fokus auf der Propaganda und der strafrechtlichen Verfolgung.

In diesem Beitrag soll die Geschichte einer gläubigen russlanddeutschen Familie nachgezeichnet werden, deren Leben in Sowjetrussland einerseits von Ausgrenzung, aber auch von einer tiefen religiösen Überzeugung geprägt war. 1956 kam Adolf Böhm (*1935 in Starorotowka, Oblast Rostow), dessen Familie ursprünglich lutherischen Glaubens war, mit 21 Jahren das erste Mal mit Baptisten in Kontakt. Diese Begegnung legte den Grundstein für die kommenden Jahrzehnte, die er seinem Glauben widmete. Diese Begegnung besiegelte aber auch den Leidensweg seiner Familie.

 

Larissa (*1958 in Otradny), Adolfs Tochter, beschreibt, mit welcher Selbstverständlichkeit versucht wurde, die Ausübung des Glaubens zu unterbinden:

 

Interviewsequenz Durchsuchungen

Sie kamen zu uns nach Hause und stellten alles auf den Kopf – sie warfen die Möbel um und schmissen alles auf den Boden. Sie suchten nach Liederbüchern und Bibeln…aber wir waren ja nicht dumm. Wir versteckten alles im Stall – dort suchten sie nicht danach. Sie kamen immer nachts. Wir schliefen, sie klopften an die Tür…und dann kamen mehrere Personen rein, sicher um die fünf Personen…und sagten, sie würden nach verbotener Literatur suchen.

“Sie kamen zu uns nach Hause und stellten alles auf den Kopf – sie warfen die Möbel um und schmissen alles auf den Boden. Sie suchten nach Liederbüchern und Bibeln…aber wir waren ja nicht dumm. Wir versteckten alles im Stall – dort suchten sie nicht danach. Sie kamen immer nachts. Wir schliefen, sie klopften an die Tür…und dann kamen mehrere Personen rein, sicher um die fünf Personen…und sagten, sie würden nach verbotener Literatur suchen.”

Viktor (*1959 in Otradny), Adolfs Sohn, erzählt, dass die Kinder dafür zuständig waren, Bibeln und – oftmals – handgeschriebene Liederbücher und Psalme zu verstecken:

 

Interviewsequenz christliche Literatur

Sie kamen zu uns nach Hause und stellten alles auf den Kopf – sie warfen die Möbel um und schmissen alles auf den Boden. Sie suchten nach Liederbüchern und Bibeln…aber wir waren ja nicht dumm. Wir versteckten alles im Stall – dort suchten sie nicht danach. Sie kamen immer nachts. Wir schliefen, sie klopften an die Tür…und dann kamen mehrere Personen rein, sicher um die fünf Personen…und sagten, sie würden nach verbotener Literatur suchen.

„Die Liederbücher wurden per Hand geschrieben, das war eine unglaubliche Fleißarbeit. Wir Kinder hatten die Aufgabe, die christliche Literatur draußen in den Hügeln zu verstecken…sobald wir mitbekamen, dass es eine Durchsuchung geben sollte, rannten wir also mit dieser davon.“

Abb. 2: Innenseite eines handgeschriebenen Psalmenheftes von 1960. Der Klappentext am Ende des Heftes ist in russischer Sprache verfasst. Quelle: Privatbesitz Adolf Böhm.
Abb. 3: Handgeschriebener Psalm in deutscher Sprache von 1960. Auf der anderen Doppelseite ist der identische Psalm in russischer Sprache verfasst. Quelle: Privatbesitz Adolf Böhm.

Oftmals waren die Kinder die Leidtragenden dieses ‚ideologischen Kampfes‘. Aufgewachsen in einem religiösen Umfeld, trafen sie in der Schule auf ein gänzlich anderes Weltbild und waren dort Ausgrenzungen und Erniedrigungen ausgesetzt.

Interviewsequenz  Erniedrigungen

Sie kamen zu uns nach Hause und stellten alles auf den Kopf – sie warfen die Möbel um und schmissen alles auf den Boden. Sie suchten nach Liederbüchern und Bibeln…aber wir waren ja nicht dumm. Wir versteckten alles im Stall – dort suchten sie nicht danach. Sie kamen immer nachts. Wir schliefen, sie klopften an die Tür…und dann kamen mehrere Personen rein, sicher um die fünf Personen…und sagten, sie würden nach verbotener Literatur suchen.

„Wir wurden immerzu beleidigt. Das war eine schmerzvolle Erfahrung…diese Bloßstellung vor der ganzen Klasse. Schmerzvoll und unverständlich.

Auch als wir [Kinder] bereits in Pochwistnewo lebten, wurden wir ständig zum Direktor beordert…man hat uns immer gedroht, uns versucht einzuschüchtern, uns gesagt, dass wir keine beruflichen Perspektiven hätten, dass es unser Schicksal sei, zu schuften…sie versuchten einen auf jede erdenkliche Weise zu brechen.“

In der Verfassung war das „Recht auf Bildung“ festgeschrieben. Dennoch berichtet eine Vielzahl Gläubiger, dass sie nicht den gewünschten Beruf ergreifen oder keinen höheren Bildungsabschluss erreichen konnten. Viktor führt diesen Umstand auch darauf zurück, dass er Deutscher ist – sein Vatersname, Adolfowitsch, sei ein großes Problem gewesen.

 

Die Schikanen betrafen viele weitere Lebensbereiche. Viktor erlebte während seinem Wehrdienst nicht nur psychische, sondern vor allen Dingen physische Gewalt:

 

Interviewsequenz Ausbildung

Sie kamen zu uns nach Hause und stellten alles auf den Kopf – sie warfen die Möbel um und schmissen alles auf den Boden. Sie suchten nach Liederbüchern und Bibeln…aber wir waren ja nicht dumm. Wir versteckten alles im Stall – dort suchten sie nicht danach. Sie kamen immer nachts. Wir schliefen, sie klopften an die Tür…und dann kamen mehrere Personen rein, sicher um die fünf Personen…und sagten, sie würden nach verbotener Literatur suchen.

„Als wir in die Oblast Samara kamen, war ich gerade in der sechsten Klasse. Nach Abschluss der achten Klasse wurde mir eine Charakteristik ausgestellt, die besagte, dass ich ein Mitglied der Sekte der Pfingstler und weder Oktoberkind noch Mitglied bei der Pionierorganisation oder im Komsomol sei. Daraufhin konnte ich nirgend eine Ausbildung antreten…

Ich kam nach Hause und weinte mich bitterlich bei meiner Mutter aus.

Aber so war es schon immer…Christen hatten keinen Zugang zu Bildung. Alle Türen waren uns verschlossen. Das Einzige, was mir übrig blieb, war es, eine Ausbildung zur Näherin zu absolvieren, die ich gehasst habe – auch heute noch kann ich diesen Beruf nicht ausstehen.  Meist waren gläubige Frauen Schneiderinnen und die Männer Schlosser.“

Die Baptisten ‚verzichteten‘ 1926 bei einem Kongress auf den Pazifismus. Pfingstchristen hingegen lehnten den Waffendienst und die Eidesleistung ab und nahmen sogar Verurteilungen in Kauf. 1963 wurden alleine in der Ukraine 20 Personen – hauptsächlich Pfingstchristen und Zeugen Jehovas – verurteilt, die sich geweigert hatten, den Wehrdienst zu leisten. Viktor erklärte im Einberufungsamt, dass er Christ sei und den Eid nicht leisten würde. Er hatte die Hoffnung, in einen ‚Strojbat‘[1] in die Nähe seiner Familie zu kommen, wurde aber der Marineeinheit der Pazifikflotte in Wladiwostok zugeordnet.

Der Hass, dem die Familie begegnete, kam nicht von ungefähr, sondern wurde über Jahre hinweg gesät. Im Kino, im Radio und auch in den Printmedien begegneten den Menschen bestimmte Bilder der Gläubigen und formten so eine stereotype Vorstellung:

[1] Junge Männer, die die Eidesleistung verweigerten, wurden in solchen Baubataillons eingesetzt. Dort wurden sie seitens ihrer Vorgesetzten oft geschätzt, da sie sich vorbildlich und ehrlich verhielten. Den Baubataillons wurden oftmals vorbestrafte Männer zugeteilt. Ein Ableisten des Wehrdienstes in den Baubataillonen war i.d.R. unbeliebt unter Wehrpflichtigen.

 

Interviewsequenz Armee

„Es war nicht ungefährlich dort zu sagen, man sei ein gläubiger Mensch. Man musste auf alles vorbereitet sein:

Ich wurde zum Beispiel auf den Toiletten eingeschlossen – die ganze Nacht über. Dabei wurde man bis auf die Unterhose ausgezogen. Das waren unzählige Toiletten – für die ganze Kaserne! Bis zum Morgen musste alles blitzeblank sein – es blieb einem nichts anders übrig, als die Unterhose auszuziehen und damit alle Toiletten zu putzen. Morgens kamen sie rein und überprüften alles – wenn es nicht ihren Vorstellungen entsprach, wurde man eine weitere Nacht eingesperrt. Das habe ich als Christ dort erleiden müssen.

Ein Wehrdienstleistender hat außerdem einmal zu mir gesagt, er würde mich umbringen. Ein Weiterer prügelte auf mich mit den Worten ein, dass Gott ihm verzeihen werde.

Man musste zudem Lenins Werke konspektieren – ich tat dies nicht und besuchte auch nicht den Politunterricht. Dies brachte die Anderen gegen mich auf – sie fragten mich, ob ich denken würde, ich sei etwas Besseres.“

„Es war nicht ungefährlich dort zu sagen, man sei ein gläubiger Mensch. Man musste auf alles vorbereitet sein: Ich wurde zum Beispiel auf den Toiletten eingeschlossen – die ganze Nacht über. Dabei wurde man bis auf die Unterhose ausgezogen. Das waren unzählige Toiletten – für die ganze Kaserne! Bis zum Morgen musste alles blitzeblank sein – es blieb einem nichts anders übrig, als die Unterhose auszuziehen und damit alle Toiletten zu putzen. Morgens kamen sie rein und überprüften alles – wenn es nicht ihren Vorstellungen entsprach, wurde man eine weitere Nacht eingesperrt. Das habe ich als Christ dort erleiden müssen. Ein Wehrdienstleistender hat außerdem einmal zu mir gesagt, er würde mich umbringen. Ein Weiterer prügelte auf mich mit den Worten ein, dass Gott ihm verzeihen werde. Man musste zudem Lenins Werke konspektieren – ich tat dies nicht und besuchte auch nicht den Politunterricht. Dies brachte die Anderen gegen mich auf – sie fragten mich, ob ich denken würde, ich sei etwas Besseres.“
Abb. 4: Eine Seite aus einem staatlich herausgegebenen Buch mit dem Titel „In der Welt der Schrecken. Eine Fotodokumentation über die Sektierer unter dem Namen ‚Pfingstler‘ “. Moskau 1962.

Übersetzung des Textes in der Infobox:

„Seht euch die an, die zu einem weiteren Gebet gekommen sind. Die Predigt beginnt, es vergeht eine Stunde, eine weitere Stunde – und ihre Gesichter werden von einer krampfhaften Grimasse, dem Siegel der Ekstase, verzerrt sein, und sie werden heulend und wehklagend auf den Knien kriechen und Gott bitten sie zu retten. Durch dauerhafte Einschüchterungen formt die Religion willenlose, belächelte Menschen, die nur dazu fähig sind, auf den ‚Allmächtigen‘ zu hoffen.“

Übersetzung des Textes in der Infobox:

„Seht euch die an, die zu einem weiteren Gebet gekommen sind. Die Predigt beginnt, es vergeht eine Stunde, eine weitere Stunde – und ihre Gesichter werden von einer krampfhaften Grimasse, dem Siegel der Ekstase, verzerrt sein, und sie werden heulend und wehklagend auf den Knien kriechen und Gott bitten sie zu retten. Durch dauerhafte Einschüchterungen formt die Religion willenlose, belächelte Menschen, die nur dazu fähig sind, auf den ‚Allmächtigen‘ zu hoffen.“

Die Gläubigen wurden als besonders gefährliche und der sowjetischen Gesellschaft fremdartige Subjekte porträtiert. Eine beliebte Unterstellung in der Presse zu Zeiten Chruschtschows war, dass die Gläubigen anderen bewusst gesundheitliche Schäden zufügen würden. Insbesondere Pfingstchristen waren Ziel der Propagandakampagne: Ihnen wurden sogar Ritualmorde an Kindern und Jugendlichen unterstellt. In einer Vielzahl an herausgegebenen Publikationen wurde die Pfingstchristen als „Obskurantisten“ betitelt und vor allen Dingen ihr schlechter Einfluss auf Kinder und Jugendliche hervorgehoben. Auch Adolfs Familie war vor öffentlichen Verleumdungen nicht sicher:

Interviewsequenz Propaganda

„Als ich bereits im Lager war, hörte ich im Radio zufällig die Ankündigung, dass am nächsten Tag ein Beitrag über die ‚Trjassuny‘[1] aus Amazar gesendet werden sollte…

Im Beitrag wurde dann erzählt, dass ich der Anführer der Sekte der ‚Trjassuny‘ gewesen sei. Zudem wurde gesagt, dass wir, wenn wir beten, schreien würden. Schließlich hieß es, dass ich mittlerweile im Lager sei und meinen Kindern verboten hätte, Teil der Pionierorganisation zu sein. Meine älteste Tochter Irina wäre jedoch währenddessen von ihrer Lehrerin umerzogen worden…

Und dann erzählten sie eine Geschichte, die sich folgendermaßen zugetragen haben soll:

Irina habe es geliebt, das rote Halstuch der Pioniere zu tragen – dies war bei uns zu Hause verboten. Sie versteckte also das Halstuch und zog es heimlich an, sobald sie das Haus verließ. Ich erinnere mich noch, dass ich mich wunderte, ob sich dies tatsächlich so zugetragen hatte…

Und dann wurde das Ganze ja auch noch in ganz Russland ausgestrahlt!

Dann wurde erzählt, dass ich einst an der Schule meiner Tochter vorbeigelaufen sei und gesehen hätte, dass sie das Halstuch trägt. Daraufhin wäre ich über den hohen Zaun geklettert[2], hätte sie an dem Halstuch gepackt und gesagt, dass ich sie an dem Halsband aufhängen werde. So etwas hatte sich natürlich niemals zugetragen!“

 

[1] Trjassuny (vom Wort «трястись» = dt. (sich) schütteln/zittern) wurden im Volksmund Anhänger religiöser Sekten bezeichnet, die sich sonderbar bewegten. Vgl. Beljakova, Zenščiny v evangel’skich obščinach poslevoennogo SSSR, S. 119: Dieser Begriff stammt aus dem vorrevolutionären Russland und bezeichnet Anhänger einer Bewegung, die an die erfahrbare Herabkunft des Heiligen Geistes glaubte – dieses Erleben zeichnete sich durch Bewegungen aus, die auf Außenstehende unkontrolliert gewirkt haben. In der Presse war der Begriff bis in die Siebzigerjahre hinein gebräuchlich, wurde aber auch in den folgenden Jahrzehnten als Beleidigung verwendet.

[2] Adolf zog sich als Neunzehnjähriger eine schwere Verletzung am rechten Arm und Oberschenkel zu. Seitdem konnte er seinen Arm nicht mehr vollständig bewegen und humpelte zudem. Solch ein Manöver, wie im Radiobeitrag beschrieben, wäre somit völlig unmöglich gewesen.

„Als ich bereits im Lager war, hörte ich im Radio zufällig die Ankündigung, dass am nächsten Tag ein Beitrag über die ‚Trjassuny‘[1] aus Amazar gesendet werden sollte…

Im Beitrag wurde dann erzählt, dass ich der Anführer der Sekte der ‚Trjassuny‘ gewesen sei. Zudem wurde gesagt, dass wir, wenn wir beten, schreien würden. Schließlich hieß es, dass ich mittlerweile im Lager sei und meinen Kindern verboten hätte, Teil der Pionierorganisation zu sein. Meine älteste Tochter Irina wäre jedoch währenddessen von ihrer Lehrerin umerzogen worden…

Und dann erzählten sie eine Geschichte, die sich folgendermaßen zugetragen haben soll:

Irina habe es geliebt, das rote Halstuch der Pioniere zu tragen – dies war bei uns zu Hause verboten. Sie versteckte also das Halstuch und zog es heimlich an, sobald sie das Haus verließ. Ich erinnere mich noch, dass ich mich wunderte, ob sich dies tatsächlich so zugetragen hatte…

Und dann wurde das Ganze ja auch noch in ganz Russland ausgestrahlt!

Dann wurde erzählt, dass ich einst an der Schule meiner Tochter vorbeigelaufen sei und gesehen hätte, dass sie das Halstuch trägt. Daraufhin wäre ich über den hohen Zaun geklettert[2], hätte sie an dem Halstuch gepackt und gesagt, dass ich sie an dem Halsband aufhängen werde. So etwas hatte sich natürlich niemals zugetragen!“

 

[1] Trjassuny (vom Wort «трястись» = dt. (sich) schütteln/zittern) wurden im Volksmund Anhänger religiöser Sekten bezeichnet, die sich sonderbar bewegten. Vgl. Beljakova, Zenščiny v evangel’skich obščinach poslevoennogo SSSR, S. 119: Dieser Begriff stammt aus dem vorrevolutionären Russland und bezeichnet Anhänger einer Bewegung, die an die erfahrbare Herabkunft des Heiligen Geistes glaubte – dieses Erleben zeichnete sich durch Bewegungen aus, die auf Außenstehende unkontrolliert gewirkt haben. In der Presse war der Begriff bis in die Siebzigerjahre hinein gebräuchlich, wurde aber auch in den folgenden Jahrzehnten als Beleidigung verwendet.

[2] Adolf zog sich als Neunzehnjähriger eine schwere Verletzung am rechten Arm und Oberschenkel zu. Seitdem konnte er seinen Arm nicht mehr vollständig bewegen und humpelte zudem. Solch ein Manöver, wie im Radiobeitrag beschrieben, wäre somit völlig unmöglich gewesen.

Schließlich wurde Adolf Böhm als Presbyter einer „religiösen Sekte“ am 20. Mai 1961 zu einer fünfjährigen Verbannung verurteilt. Er und seine Familie verließen ihren Heimatort in der Nähe von Pochwistnewo und zogen gemeinsam ins knapp 6.000 Kilometer entfernte Amasar.

 

Interviewsequenz Gerichtsverhandlung

„Meine Frau und ich waren auf dem Nachhauseweg von der Gebetsversammlung. Als wir schon fast zu Hause waren, habe ich im Schaufenster eines Geschäftes auf der anderen Straßenseite eine große Annonce gesehen…dort stand, dass am 20. Mai im Klub der Ölarbeiter eine Gerichtsverhandlung wegen antisozialem Verhalten gegen Adolf Böhm geführt werden sollte. Später haben wir erfahren, dass diese Plakate in der ganzen Stadt aufgehangen wurden. Das war 1961…kurz zuvor wurde unser Sohn Eduard geboren. Zu dem Zeitpunkt war er noch keinen Monat alt.

Als wir zur Verhandlung kamen, war der ganze Saal voll – es gab keinen einzigen freien Platz mehr.“

„Meine Frau und ich waren auf dem Nachhauseweg von der Gebetsversammlung. Als wir schon fast zu Hause waren, habe ich im Schaufenster eines Geschäftes auf der anderen Straßenseite eine große Ankündigung gesehen…dort stand, dass am 20. Mai im Klub der Ölarbeiter eine Gerichtsverhandlung wegen antisozialem Verhalten gegen Adolf Böhm geführt werden sollte. Später haben wir erfahren, dass diese Plakate in der ganzen Stadt aufgehangen wurden. Das war 1961…kurz zuvor wurde unser Sohn Eduard geboren. Zu dem Zeitpunkt war er noch keinen Monat alt.

Als wir zur Verhandlung kamen, war der ganze Saal voll – es gab keinen einzigen freien Platz mehr.“

Adolf wurde nach dem Dekret vom 4. Mai 1961 „Über die Verschärfung des Kampfes gegen Personen, die gesellschaftlich nützliche Arbeit vermeiden und einen antisozialen, parasitären Lebensstil führen“ verurteilt. Aus dem Dekret geht hervor, dass „Artikel 1 des Dekrets […] auf  Personen Anwendung findet, die […] der Prostitution nachgehen, von Ausländern Dinge zum Zwecke des Weiterverkaufs kaufen, sowie Personen, die illegale religiöse Sekten führen“. Zudem heißt es, das Leben solcher Personen würde mit „Trunkenheit“ und „moralischem Verfall“ einhergehen und sich „nachteilig auf andere instabile Mitglieder der Gesellschaft“ auswirken. In den Verbannungsorten wurden sogenannte Kommandanturen eingerichtet, die die „Registrierung  der Ausgewiesenen organisieren, ihr Verhalten und ihre Arbeitstätigkeit kontrollieren“ sollten.

Adolfs Tätigkeit als Presbyter, also als Pastor einer Religionsgemeinschaft, riss in der Verbannung jedoch nicht ab, sondern intensivierte sich. Laut Adolf fand sich um ihn herum direkt zu Beginn eine kleine Gruppe Gläubiger zusammen. In der Verbannung predigte Adolf aktiv weiter – auch im Umfeld Minderjähriger, was ein weiteres Strafverfahren provozierte. Dies war der Auftakt des gegen Adolf Böhm eingeleiteten Strafverfahrens nach § 227.

Larissa berichtet, wie sie diesen Tag erlebt hat:

Interviewsequenz Inhaftierung

„Am Tag der Gerichtsverhandlung wurde meine Schwester Olga geboren. Meine Mutter konnte der Gerichtsverhandlung deshalb nicht beiwohnen und hat meinen Vater für weitere sechs Monate nicht sehen können.

Ich erinnere mich noch gut daran, dass alle Verurteilten aus dem Gerichtsgebäude herausgeführt und in einen schwarzen fensterlosen ‚Voron‘[1] gesetzt wurden – uns wurden lediglich fünfzehn Minuten für die Verabschiedung eingeräumt. Wir liefen zu Papa, während die Milizionäre uns packten und verjagen wollten.

Wir sechs Kinder lebten fortan mit unserer Großmutter und Mutter zusammen. Mama arbeitete tagsüber als Buchhalterin und nachts als Nachtwächterin. Nachts fürchtete sie sich jedoch alleine und nahm entweder mich oder Viktor mit. Wir schliefen dort (im Sägewerk) und gingen am nächsten Tag in die Schule.“

[1] Umgangssprachlicher Ausdruck für einen bestimmten Typ eines Dienstwagens des NKVD, der zum Transport Verhafteter genutzt wurde. Das russ. «ворон» (dt. ‚voron‘ = Rabe) bezieht sich auf die schwarze Farbe des Fahrzeugs.

„Am Tag der Gerichtsverhandlung wurde meine Schwester Olga geboren. Meine Mutter konnte der Gerichtsverhandlung deshalb nicht beiwohnen und hat meinen Vater für weitere sechs Monate nicht sehen können.

Ich erinnere mich noch gut daran, dass alle Verurteilten aus dem Gerichtsgebäude herausgeführt und in einen schwarzen fensterlosen ‚Voron‘[1] gesetzt wurden – uns wurden lediglich fünfzehn Minuten für die Verabschiedung eingeräumt. Wir liefen zu Papa, während die Milizionäre uns packten und verjagen wollten.

Wir sechs Kinder lebten fortan mit unserer Großmutter und Mutter zusammen. Mama arbeitete tagsüber als Buchhalterin und nachts als Nachtwächterin. Nachts fürchtete sie sich jedoch alleine und nahm entweder mich oder Viktor mit. Wir schliefen dort (im Sägewerk) und gingen am nächsten Tag in die Schule.“

[1] Umgangssprachlicher Ausdruck für einen bestimmten Typ eines Dienstwagens des NKVD, der zum Transport Verhafteter genutzt wurde. Das russ. «ворон» (dt. ‚voron‘ = Rabe) bezieht sich auf die schwarze Farbe des Fahrzeugs.

Adolf wurde schließlich zu fünf Jahren Haft verurteilt. Adolfs Verurteilung basierte auf dem Paragraf 227 „Gründung einer Gruppe, die der Gesundheit der Mitbürger Schaden zufügt“. Aus Artikel 10 „Verbrechen gegen die öffentliche Sicherheit, die öffentliche Ordnung und die Gesundheit des Volkes“ geht hervor, dass die Gründung einer Gruppe, deren

„Tätigkeit unter dem Vorwand der Verkündigung religiöser Überzeugungen mit einer Gesundheitsschädigung der Bürger oder sexueller Promiskuität verbunden ist, sowie Führung einer solchen Gruppe oder die Beteiligung Minderjähriger daran, mit einem Freiheitsentzug für einer Dauer von bis zu fünf Jahren mit oder ohne Verbannung, mit oder ohne Entziehung von Eigentum, bestraft wird“.[1]

Unter Paragraf 227 fiel die „Organisation oder Leitung einer Gruppe, deren Tätigkeit unter dem Deckmantel der Verkündigung religiöser Lehren und der Durchführung religiöser Riten mit der Schädigung der Gesundheit der Bürger oder […] der Rechte der Bürger oder mit der Veranlassung der Bürger zur Verweigerung […] der Erfüllung von Bürgerpflichten verbunden ist, sowie die Beteiligung von Minderjährigen an der Gruppe“.

[1] Zakon Rossijskoj Federacii ‚O reabilitacii žertv političeskich repressij‘, 18 oktjabrja 1991 g. In: Ėlektronnaja biblioteka istoričeskich dokumentov. URL: http://docs.historyrussia.org/ru/nodes/162417-zakon-rossiyskoy-fe- deratsii-o-reabilitatsii-zhertv-politicheskih-repressiy-18-oktyabrya-1991-g#mode/inspect/page/1/zoom/4 (Zugriff am 20.06.2023): Dieses Gesetz wurde aus dem Strafgesetzbuch am 18.10.1991 gestrichen. Aus Artikel 5 geht demnach hervor, dass Personen, die wegen „antisowjetischer Agitation und Propaganda“, „Verletzung der Gesetze über die Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche“ und der „Flucht von Orten des Freiheitsentzugs, der Verbannung und Sondersiedlungen […], die sich mit ungerechtfertigten politischen Repressionen an diesen Orten aufhielten, unabhängig von der faktischen Grundlage der Anschuldigung der Person“ rehabilitiert werden.

Abb. 5: Adolfs Kinder in der Verbannung – Adolf war zu diesem Zeitpunkt im Gefängnis. Viktor befindet sich links im Bild, Larissa oben links. Quelle: Privatbesitz Adolf Böhm. Amasar 1967.

Adolf erzählt von seinen Eindrücken aus dem Gefängnis:

 

Interviewsequenz Haft

„Wir wurden ins Lager nach Nowosibirsk gebracht. Dort habe ich verstanden, was Gefangenschaft heißt…

Ich wurde in die Baracke gebracht, wo etwa 130 Männer auf dreistöckigen Liegeplätzen untergebracht waren. Mir war es wichtig, dass die anderen wissen, dass ich ein Christ bin. Also bin ich auf die Knie gegangen und habe begonnen zu beten. Die anderen Gefangenen haben sogleich angefangen zu rufen, dass ein ‚Heiliger‘ aufgetaucht sei. Sie umkreisten mich – manche beleidigten mich, andere bespuckten mich oder lachten mich aus. Ich ertrug das alles.“

„Wir wurden ins Lager nach Nowosibirsk gebracht. Dort habe ich verstanden, was Gefangenschaft heißt…

Ich wurde in die Baracke gebracht, wo etwa 130 Männer auf dreistöckigen Liegeplätzen untergebracht waren. Mir war es wichtig, dass die anderen wissen, dass ich ein Christ bin. Also bin ich auf die Knie gegangen und habe begonnen zu beten. Die anderen Gefangenen haben sogleich angefangen zu rufen, dass ein ‚Heiliger‘ aufgetaucht sei. Sie umkreisten mich – manche beleidigten mich, andere bespuckten mich oder lachten mich aus. Ich ertrug das alles.“

Nach Adolfs Entlassung 1969 zog die Familie nach Pochwistnewo.

Abb. 6: Adolfs Entlassungsbescheid aus dem Gefängnis. Datiert vom 6. Juli 1969. Quelle: Privatbesitz Adolf Böhm. Novossibirsk 1969.

Zurück in Pochwistnewo führte Adolf seine Tätigkeit als Presbyter fort: er taufte, predigte und leitete Gebetsversammlungen in seinem Zuhause. Weitere strafrechtliche Maßnahmen blieben aus – dies entsprach mittlerweile nicht mehr dem staatlichen Kurs. Dem allzeit sehenden und hörenden Auge des Staates konnte man jedoch nicht entkommen. Es war üblich, dass Gläubige am Arbeitsplatz und in den Schulen drangsaliert wurden, dass ihre Gebetsversammlungen überwacht und immerzu Bußgelder verhängt wurden. Auf diese Weise wurde versucht, ihren Willen zu brechen.

Interviewsequenz Bußgelder

„Unsere Gebetsversammlungen wurden von den Behörden aufgesucht, die Anwesenden vermerkt und anschließend zur Anhörung vorgeladen. Schließlich wurden Geldstrafen ausgesprochen. Man kann sich vorstellen, wie viel eine Strafe in Höhe von 10 Rubel für mich war, wenn mein Vater Adolf monatlich 60 Rubel verdiente…das war viel Geld für mich, da ich noch kein eigenes Einkommen hatte. Und solche Bußgelder wurden oft verhängt.“

„Unsere Gebetsversammlungen wurden von den Behörden aufgesucht, die Anwesenden vermerkt und anschließend zur Anhörung vorgeladen. Schließlich wurden Geldstrafen ausgesprochen. Man kann sich vorstellen, wie viel eine Strafe in Höhe von 10 Rubel für mich war, wenn mein Vater Adolf monatlich 60 Rubel verdiente…das war viel Geld für mich, da ich noch kein eigenes Einkommen hatte. Und solche Bußgelder wurden oft verhängt.“

Abb. 7: Taufe in der pfingstchristlichen Gemeinde mit Adolf als Presbyter. Adolf in der Mitte im Bild mit Hosen-trägern, links daneben sein Sohn Viktor. Taufen mussten im Geheimen stattfinden – meist wurden sie nachts durchgeführt. Quelle: Privatbesitz Adolf Böhm. Otradny 1978.

Allmählich änderte sich der Umgang mit den Gläubigen – spätestens unter Gorbatschow war man bereit, mehr Zugeständnisse einzuräumen. Pfingstgemeinden begannen, sich ‚autonom registrieren‘ zu lassen. Das bedeutet, dass sie legal existieren und Gebetsversammlungen durchführen durften, ohne Strafen fürchten zu müssen.

1983 nahm auch Adolf die Möglichkeit wahr, seine Gemeinde registrieren zu lassen.

1986 gab es in der Sowjetunion 843 Pfingstgemeinden. Davon waren 250 autonom registrierte Pfingstgemeinden.

 

Abb. 8: Bescheid über die Registrierung einer religiösen Gemeinschaft. Quelle: Privatbesitz Adolf Böhm. Kuiby-schew 1983.

Obwohl die letzten Jahre der Sowjetunion den Gläubigen grundsätzlich als eine Zeit der deutlichen Lockerungen in Erinnerung geblieben sind, wurde bis zuletzt auf administrativer Ebene versucht, die Religion und ihre Ausbreitung in Zaum zu halten. Überwachung und Kontrolle waren weiterhin die grundlegenden Prinzipien. Viele Gläubige hatten deshalb den Wunsch, die Sowjetrepubliken zu verlassen. In den Achtzigerjahren gelang es jedoch lediglich zwei Familien aus Pfingstgemeinden in die USA zu emigrieren. Die Pfingstgemeinden hatten, anders als viele Baptistengemeinden, keine organisierte Unterstützung im westlichen Ausland und selten ethnische Bezüge zum jeweiligen Migrationsland. So gelang es bis Ende der Achtzigerjahre nur wenigen – und wenn, dann auf Grund langjähriger Proteste – die Ausreise bewilligt zu bekommen. 1991 reiste schließlich auch Adolf Böhm mit seiner Familie nach Deutschland aus:

Interviewsequenz Ausreise

„1991 reisten wir nach Deutschland aus. Bis zuletzt wurden wir verfolgt: man ging raus und an der Ecke stand immer ein Wagen – das war der KGB, das wussten wir. Wohin wir auch fuhren – sie fuhren hinterher. Ich ging zur Post – sie folgten mir. Ich wollte einen Brief bei der Post abgeben – er wurde nicht angenommen. Ich wollte durch eine Tür gehen – sie standen an der Schwelle…

Sie verhielten sich immer sehr dreist. Ich war 32, als ich Russland verließ – und all die 32 Jahre war ich dort keinen einzigen Tag ein freier Mensch.

Im Nachhinein habe ich jedoch verstanden, dass sie einen dummen Fehler gemacht haben: Das Erlebte hatte den Effekt, dass ich dadurch noch mehr zu meinen Überzeugungen stand…ich hatte verstanden, dass diese Menschen einem nichts Gutes wünschten.“

„1991 reisten wir nach Deutschland aus. Bis zuletzt wurden wir verfolgt: man ging raus und an der Ecke stand immer ein Wagen – das war der KGB, das wussten wir. Wohin wir auch fuhren – sie fuhren hinterher. Ich ging zur Post – sie folgten mir. Ich wollte einen Brief bei der Post abgeben – er wurde nicht angenommen. Ich wollte durch eine Tür gehen – sie standen an der Schwelle…

Sie verhielten sich immer sehr dreist. Ich war 32, als ich Russland verließ – und all die 32 Jahre war ich dort keinen einzigen Tag ein freier Mensch.

Im Nachhinein habe ich jedoch verstanden, dass sie einen dummen Fehler gemacht haben: Das Erlebte hatte den Effekt, dass ich dadurch noch mehr zu meinen Überzeugungen stand…ich hatte verstanden, dass diese Menschen einem nichts Gutes wünschten.“

Die per Gesetz angeordnete Diskriminierung und Unterdrückung aller Kirchen und somit auch der Pfingstgemeinden nahm formell nach über 72 Jahren mit dem Gesetz „Über die Freiheit der Religionsausübung“ vom 25. Oktober 1990 ein Ende.

Gedenktage als Identitätsmarker: Der Gedenkkalender in der russlanddeutschen Community

Wena Wolf

Wena Wolf

Wena Wolfs Essay untersucht die komplexe Beziehung zwischen offiziellen und persönlichen Gedenktagen in der russlanddeutschen Community und beleuchtet, wie diese Tage Identität und Erinnerungskultur prägen.

Wena Wolf analysiert in ihrem Essay die Rolle von Gedenktagen in der Erinnerungskultur der Russlanddeutschen. Sie beleuchtet die Bedeutung von offiziellen Gedenktagen und persönlichen Erinnerungen, insbesondere des 28. August als den zentralen Gedenktag der Russlanddeutschen und des 9. Mai, des offiziellen Tages des Sieges der Sowjetunion über Nazideutschland. Sie untersucht deren Einfluss auf die individuelle und kollektive Identität der Russlanddeutschen. Durch ein Interview mit dem Osteuropahistoriker Dmitri Stratievski vertieft sie die Frage, wann woran erinnert wird und welche Schlüsse daraus gezogen werden können.

Gedenktage als Identitätsmarker: Der Gedenkkalender in der russlanddeutschen Community

Gedenktage sind zentrale Elemente der Erinnerungskultur eines Landes. Sie stabilisieren die Erinnerung an bestimmte Ereignisse und gruppenbezogene Erfahrungen, sodass diese trotz Generationenwechsel und schwindendem persönlichen Bezug über lange Zeit erhalten bleiben. Indem gemeinsame Erinnerungen wachgehalten werden, stärken Gedenktage außerdem das Identitäts- und Zusammengehörigkeitsgefühl einer Gruppe. Gleichzeitig bietet der jährlich wiederkehrende Erinnerungsimpuls die Möglichkeit, das eigene Gedenken zu reflektieren.

In einer inklusiven Erinnerungskultur innerhalb einer Migrationsgesellschaft sollten verschiedene Perspektiven und Narrative berücksichtigt werden. Gedenktage können dabei eine wichtige Rolle spielen, indem sie der Geschichte und den Erfahrungen von Migrantinnen und Migranten und ihren Nachkommen Sichtbarkeit verleihen und diese als selbstverständlichen Teil der deutschen Geschichte und Gegenwart anerkennen.

In Hinblick auf die russlanddeutsche Community fallen im Gedenkkalender zwei Daten ins Auge: der 28. August als zentraler Gedenktag der Russlanddeutschen, sowie der 9. Mai als ursprünglich sowjetischer Feiertag. Bei letzterem handelt es sich um den Tag des Sieges, der in Russland und einigen anderen Nachfolgestaaten nach wie vor von Bedeutung ist.

Der „Tag des Sieges“ entwickelte sich seit den 1960er Jahren sukzessive zu einem der wichtigsten Feiertage in der Sowjetunion und stellte bis zu deren Auflösung den zentralen Bestandteil der Erinnerungspolitik dar. Im Vordergrund stand die heroische Inszenierung des Sieges im „Großen Vaterländischen Krieg“ und die Ehrung der Veteranen.  Unter Putin wird diese Tradition fortgesetzt, eine historische Aufarbeitung findet dabei nicht statt. Indem die russische Propaganda die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg instrumentalisiert, um den Krieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen, bekommt der 9. Mai eine neue Bedeutungsebene.

Der „Tag der Russlanddeutschen“ besteht in Deutschland seit 1982 und beruft sich auf den Stalin-Erlass vom 28. August 1941, der die Umsiedlung der im Wolgagebiet ansässigen Deutschen veranlasste und insgesamt zur Deportation von rund 900.000 Russlanddeutschen aus ihren Siedlungsgebieten nach Sibirien und Zentralasien führte. Das Datum steht stellvertretend für die Repressionen, die Russlanddeutsche in der Sowjetunion erlebt haben. Die Sichtbarkeit des 28. August in der gesamtdeutschen Wahrnehmung ist eher bescheiden, und eine Umfrage unter zufällig ausgewählten Personen würde wahrscheinlich ergeben, dass kaum jemand von diesem Gedenktag gehört hat – geschweige denn von seiner Bedeutung.

Meldungen zum Jahrestag konzentrieren sich hauptsächlich auf Pressemitteilungen offizieller Regierungskanäle, vereinzelte regionale Zeitungen sowie die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland (LmDR) und Aussiedlervereine, welche mitunter auch Gedenkveranstaltungen organisieren. Runden Jahrestagen wird dabei insgesamt eine etwas größere mediale Aufmerksamkeit geschenkt. Darüber hinaus findet das Thema in großen allgemeinen Zeitungen und Kanälen kaum Beachtung. In der fehlenden Abbildung und Thematisierung in der deutschen Medienlandschaft sieht Dmitri Stratievski einen wichtigen Grund, warum der Gedenktag auch innerhalb der Community wenig Aufmerksamkeit erfährt. Viele, vor allem junge Russlanddeutsche, würden diesen Tag schlicht gar nicht kennen.

Dr. Dmitri Stratievski ist Historiker und Politologe mit Sitz in Berlin. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Netzwerk Osteuropa der Max-Weber-Stiftung und ist Vorsitzender des Osteuropa Zentrums in Berlin. Unter anderem hat er zu Identitäten und Erinnerungspraktiken von Russlanddeutschen geforscht. Für diesen Text wurde ein Interview mit ihm geführt.

Foto: Wena Wolf

Unabhängig von der medialen Repräsentanz hängt das Interesse am 28. August auch davon ab, wie generell in der Familie mit den traumatischen Erfahrungen in der Sowjetunion umgegangen wird. In vielen Fällen wird das Thema nur flüchtig behandelt, was, insbesondere bei der jüngeren Generation, zu einem begrenzten Verständnis der eigenen Familiengeschichte sowie dessen Einordnung in die russlanddeutsche Kollektivgeschichte bedeutet. Viele würden sich mit oberflächlichen Informationen zufriedengeben oder empfänden, so Stratievski, kein Bedürfnis, sich eingehender mit diesen Themen zu beschäftigen. Darüber hinaus können Gedenktage verdrängte Traumata reaktivieren und überwältigende Emotionen hervorrufen. In der Vermeidung solcher Konfrontationen sieht Stratievski eine weitere Erklärung für das mangelnde Interesse an diesem Gedenkanlass, da Menschen sich oft bewusst oder unbewusst vor emotionaler Überforderung schützen.

Das mehrheitlich eher geringe Interesse innerhalb der Community und die mangelnde Beachtung dieses Datums in der breiten Öffentlichkeit bedingen sich schlussendlich vermutlich gegenseitig. Trotzdem gibt es einige Impulse „von innen“ heraus, wie beispielsweise Ostklick, die u.a. auf Instagram versuchen, den Gedenktag und die damit verbundenen Erinnerungen präsenter zu machen.

Mitunter verstärkt werden kann die Wirkung von Jahrestagen im Zusammenspiel mit physischen Erinnerungsorten. So dienen Denkmäler häufig als Veranstaltungsorte für z.B. Kranzniederlegungen. Indem diese Orte mit Bildern offizieller und privater Gedenkpraktiken verknüpft werden, verankert sich das Datum stärker im kollektiven Gedächtnis. Das Potential für einen solchen Ort bietet der Gedenkstein für die Vertreibung der Russlanddeutschen in Berlin-Marzahn, der 2001 auf Initiative eines Aussiedlervereins errichtet wurde. Hier finden jährlich zum 28. August offizielle Gedenkveranstaltungen statt, an denen neben Nachfahrinnen und Nachfahren und Mitgliedern russlanddeutscher Organisationen auch Vertreterinnen und Vertretern aus der Politik teilnehmen. Ein ähnlicher Ort ist das zentrale Denkmal für Flucht und Vertreibung in Nürnberg, wo beispielsweise die LmDR regelmäßig Gedenkveranstaltungen zum 28. August abhält.

Mit dem Befreiungsdenkmal im Treptower Park existiert ein unweit monumentaleres Denkmal, an dem sich die Wechselwirkung von Gedenktagen und Denkmälern kristallisiert. 

Das sowjetische Ehrenmal im Treptower Park in Berlin war ein zentraler Erinnerungsort der DDR, an dem an verschiedenen Jahrestagen durch ritualisierte Gedenkveranstaltungen das antifaschistische Selbstverständnis des Staates und die Verbundenheit zur Sowjetunion inszeniert wurden. Die Statue des Befreiers erlangte auch über die DDR hinaus symbolische Bedeutung, indem sie auf Postkarten, Briefmarken und in Schulbüchern abgebildet wurde und so im Zusammenhang mit dem 9. Mai und dem Sieg im “Großen Vaterländischen Krieg” im sowjetischen kollektiven Gedächtnis verankert ist. Heute hat das Denkmal u.a. für manche Menschen mit verschiedenen Bezügen zur ehemaligen Sowjetunion weiterhin Bedeutung und wird vorrangig am 8./9. Mai Schauplatz für teils fragwürdige Gedenkpraktiken und politische Einstellungen.

Diese historisch gewachsene Verbindung erklärt mitunter den symbolischen Wert und die anhaltende Nutzung des Denkmals am 9. Mai durch verschiedene Gruppen. Russlanddeutsche würden hierbei, so Stratievski, nur einen Bruchteil der feiernden Gesamtmenge bilden, die sich unter anderem aus Russischsprachigen und Menschen mit unterschiedlicher Herkunft der ehemaligen Sowjetunion zusammensetzt.

Dennoch ist dieser aus der Sowjetunion übernommene Feiertag für einen Teil der Russlanddeutschen weiterhin von Bedeutung. Vor dem Hintergrund der Repressionserfahrungen, insbesondere während des Zweiten Weltkriegs, scheinen diese mit einem aktiven Feiern des 9. Mai auf den ersten Blick widersprüchlich. Eine mögliche Erklärung für dieses Paradoxon sieht Stratievski darin, dass manche Russlanddeutsche eine gewisse Trennlinie ziehen: Sie bewerten den Sieg über NS-Deutschland positiv und erkennen an, dass dieser für viele Teile Europas die Befreiung vom Faschismus bedeutete, auch wenn die Zeit in der persönlichen Familiengeschichte mit Vertreibung und Entrechtung verknüpft ist. Einerseits verurteilen sie Stalins Verbrechen und die Sowjetunion, teilweise aufs Schärfste, als Unrechtsstaat, andererseits, verstehen sie das historische Ereignis des Sieges und den Feiertag als eine Art Bindeglied zu anderen Menschen sowie zu ihrer alten Heimat. Nostalgie spielt hierbei also ebenfalls eine Rolle und der Tag bietet einen Anlass im Privaten, um mit anderen zusammen zu kommen.

Quelle: Wikipedia Commons https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Treptower_Ehrenmal,_Tag_des_Sieges_2015,_01.jpg

Zu erwähnen seien in diesem Zusammenhang auch die Auswirkungen des 24. Februar 2022, der in vielen Fällen zu einem Umdenken geführt hat. Auch wenn der Kampf gegen NS-Deutschland und der russische Angriff auf die Ukraine zwei unterschiedliche politische Ereignisse sind, führen Russlands Krieg sowie die russische Instrumentalisierung der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zu einer Reflexion der eigenen Erinnerungspraxis: Beispielsweise würden manche, so Stratievski, den 9. Mai zwar weiterhin feiern, allerdings nicht mehr wie vormals im Treptower Park, sondern stattdessen zu Hause. In Anbetracht der Präsenz des russischen Fernsehens beim Event, wollen Menschen nicht als Komparsinnen und Komparsen für russische Propaganda missbraucht werden und ziehen sich deshalb für ihre Feierlichkeiten ins Private zurück.

Stratievski erklärt, dass die individuelle Beziehung zum 9. Mai auch eng mit der Identität als Russlanddeutsche zusammenhängt. Als Ausgangspunkt spiele die persönliche Sozialisation und damit zusammenhängende Identifikation eine entscheidende Rolle: Während sich viele primär als Deutsche oder in der Sowjetunion geborene Deutsche fühlen, gibt es auch jene, die sich als “Russaki“ bezeichnen oder eher zum großen kulturellen Kreis der Russlandstämmigen bekennen. Diese Identitätsbildung beeinflusst auch die Wahrnehmung und Bedeutung des 9. Mai: Für einige ist es ein wichtiger Gedenktag, der auf verschiedene Art und Weise privat oder öffentlich begangen wird, während andere aufgrund ihrer Familiengeschichte und der Erfahrungen in der Sowjetunion dem Datum gegenüber eine ambivalente Haltung haben oder diesen gänzlich ablehnen.

Im Gegensatz zum 28. August ist die jährliche Berichterstattung zum 9. Mai in Deutschland umfangreicher. Allerdings zeigt sich in der medialen Darstellung oft eine Tendenz zur Vereinfachung und Verallgemeinerung, die der Komplexität des Themas nicht gerecht wird. Der Fokus liegt häufig auf den Feierlichkeiten an sowjetischen Ehrenmalen in Berlin, wobei die Berichterstattung dazu neigt, verschiedene russischsprachige Gruppen undifferenziert zu betrachten. Diese einseitige Darstellung wird der Vielfalt der Perspektiven innerhalb der russlanddeutschen Community kaum gerecht und unterschlägt, dass es sich dabei um keine homogene Gruppe handelt.

Ein Anlass, der hingegen gruppenübergreifend relevant ist und in vielen Fällen aktiv erinnert wird, ist die Auswanderung nach Deutschland. Diese stelle, so Stratievski, für jede und jeden eine wichtige Zäsur dar, welche unabhängig von anderen Identifikationen, das Leben entscheidend geprägt hat. Für viele sei dieses Datum greifbarer und bedeutender als andere Ereignisse aus der Vergangenheit, weshalb häufig das Datum der Einreise nach Deutschland präsent im privaten Gedenkkalender ist. Besondere Aufmerksamkeit erhalten auch hier runde Jubiläen und es werden z.B. „30 Jahre Deutschland“ im größeren Familienkreis gefeiert. Dass solche Ereignisse eine bedeutende Rolle für viele Russlanddeutsche spielen, ist ein Phänomen, das Stratievski auch aus anderen Communities kennt. Und auch wenn diese individuellen Anlässe nicht direkt mit offiziellen Gedenk- und Feiertagen vergleichbar sind, lohnt es sich dennoch, sie in die Gesamtbetrachtung miteinzubeziehen.

Die Vielfalt der Gedenkpraktiken und die unterschiedlichen Resonanzen auf Gedenktage bilden ein breites Spektrum und sagen viel über das individuelle und kollektive Identitätsgefühl von Russlanddeutschen aus. Die (Nicht-)Identifikation mit bestimmten Gedenktagen ist stark geprägt von persönlicher Sozialisation, Erfahrungen und Selbstwahrnehmung. Diese Diversität spiegelt die Komplexität russlanddeutscher Identität(en) wider und zeigt beispielhaft, wie multiple und sich wandelnde Identitäten in einer Gemeinschaft zum Ausdruck kommen.

Auch wenn Gedenktage allein weder eine Lösung noch ein Garant für gesellschaftliches Bewusstsein sind, können sie dennoch dazu beitragen historische Ereignisse im kollektiven Gedächtnis zu verankern und Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und Identität anzuregen.

Referenzen:

Aleida Assmann: Jahrestage – Denkmäler in der Zeit. In: Paul Münch (Hg.): Jubiläum, Jubiläum… Zur Geschichte öffentlicher und privater Erinnerung. Essen 2005, S. 305-314

Durch die einsamen Steppen des Niemandslands

Elisabeth Sacharov

Elisabeth Sacharov

Elisabeth Sacharovs Essay ‚Durch die einsamen Steppen des Niemandslands‘ entführt Sie in die vergessene Siedlung Ossakarowka in Kasachstan, wo sie die Schatten der Repressionen und Zwangsarbeit aufdeckt, die Generationen ihrer Familie geprägt haben.

Elisabeth Sacharow beschreibt in ihrem Text eine Reiseerfahrung, die Erinnerungen an den kasachischen Ort Osakarowka weckt. Einst ein Zentrum für Deportierte während der Sowjetzeit, verbindet die einstige Sondersiedlung in der kasachischen Steppe für die Autorin, die selbst zur Nachfolgegeneration der Zeitzeugen gehört persönliche Familiengeschichten mit der schmerzlichen Vergangenheit der kollektiven Repressionen. Der Text reflektiert über Heimat, Verlust und die Bedeutung von Erinnerung, während die Autorin über das ambivalente Gefühl der Rückkehr in die Geschichte ihrer Vorfahren nachdenkt.

Durch die einsamen Steppen des Niemandslands

Es ist 13 Uhr mittags. Die riesigen Glasscheiben reflektieren die schwache Frühlingssonne, sodass man davon beinahe geblendet wird. Doch mir fallen trotzdem die Augen zu. Unser Flug, der sieben Stunden dauerte, ist vorbei und nun heißt es – erstmal abwarten. 

Ich werde diesen Tag und dieses ambivalente Gefühl wahrscheinlich nie vergessen. Man fühlt alles und nichts zugleich: Man ist erschöpft und gleichzeitig energievoll, fröhlich und betrübt, verängstigt, aber auch gelassen. 

Es ist wie eine Trance. Die Gespräche um mich herum, rollende Koffer auf dem Fliesenboden, Durchsagen über den Lautsprecher – alles vermischt sich. Und trotzdem, aus irgendeinem mir unerklärlichen Grund, kriege ich jedes Wort von dem Gespräch der zwei Männer neben mir mit. Sie verließen, genauso wie 25 andere Familien, an diesem Tag ihr Herkunftsland, um ein neues Leben in Deutschland aufzubauen. Sie reden über ihre Jobs – beide sind Handwerker – über das Essen im Flugzeug und über ein Dorf.

Und als ich den Namen dieses Ortes höre, werde ich hellwach. 

Osakarowka. Ein Ort mitten im Nirgendwo. Heutzutage – fast ausgestorben. Doch früher war die Siedlung voller Leben. Anfang des 20. Jahrhunderts gründeten Landleute des russischen Reichs diese Siedlung. Sie organisierten ihr Alltagsleben, bauten kleine Häuser aus Lehmziegeln und Brunnen. 

Doch das Leben bei den widrigen klimatischen Verhältnissen war hart. In den 30er Jahren blieben etwa 150 Bewohnerinnen und Bewohner, die meisten gaben ihren neuen Wohnort auf. Ein Traum von einem neuen Leben zerbrach an der Realität. 

Hiermit könnte die Geschichte der Siedlung beendet sein. Denn an diesem Ort ging es nicht ums Leben, sondern ums Überleben. Im Winter ist es hier bitterkalt, im Sommer brühend heiß. Der Ackerbau ist fast unmöglich, die Tierhaltung auch. Das Wasser ist ebenfalls knapp. Es ist nicht verwunderlich, dass die Menschen sich darauf nicht einlassen wollten. Doch dieses Glück hatten nicht alle. Nicht alle konnten diesen leblosen Ort freiwillig verlassen. 

In den 1930er – 1940er Jahren wurden tausende Menschen aus der ganzen Sowjetunion unter anderem in diese Region verbannt. Die sogenannte „Kulaken“ – wohlhabende Bauern und Handwerker, politische Gegner, Pfarrer, ethnische Minderheiten – Deutsche, Koreaner, Tschetschenen, Inguschen, Griechen. Sie galten als Klassenfeinde, Spione, potenzielle Heimatsverräter und mussten daher Zwangsarbeit leisten. Viele von ihnen starben tagtäglich. Und auch nach ihrem Tod wurden diese Menschen nicht besser behandelt. Sie wurden wie Tiere in den Massengräben gleichgültig begraben und mit dem Erdboden gleichgemacht. 

Und noch heute, wenn man durch die Steppenstraßen da unten fährt, sind viele kleine Erdhügel erkennbar. Und man kann sich ziemlich sicher sein, dass unter der Erde Mütter, Ehemänner oder Kinder von irgendwem liegen. Hunderte von unschuldigen Menschen, die definitiv keine Verbrecher waren. 

Ich war auch einige Male mit meinem Opa in Osakarowka. Sein Vater war einer von den Deportierten. In den Ferien besuchten wir manchmal diesen Erinnerungsort. Mein Opa zeigte uns sein altes Haus, einen kleinen Teich, an dem mein Uropa mit meiner Mutter damals angelte. Wir besuchten unsere Verwandten und seine alten Freunde. Wir Großstadtkinder bewunderten freilaufende Hühner und Schweine in den staubigen Straßen, pflückten Himbeeren und Blumen. Wir hatten viel Spaß zusammen, lachten viel, vor allem als mein Opa Geschichten über seine Jugend und Kindheit erzählte. Er wirkte aber auch manchmal nachdenklich, wenn er in die weite Ferne, in die endlose Steppe schaute und tief Luft, die nach Wermut roch, holte.

Osakarowka war für uns auch ein Zwischenstopp, wenn wir nach Astana, in die Hauptstadt von Kasachstan fuhren. Der Ort liegt nämlich genau in der Mitte der Autobahnstrecke zwischen Karaganda und Astana. Während meine Mutter ein paar Snacks und was zum Trinken an der Busstation kaufte, unterhielt sich Opa mit Menschen, die ihm entgegenkamen. Aus diesen Gesprächen kam fast immer heraus, dass es wohl gemeinsame Bekannte gab. Und gemeinsame Bekannte aus Osakarowka, konnte mein Opa fast bei jeder seiner Begegnung finden. Egal wo. Mein Bruder und ich verdrehten dabei oft die Augen. Es kann doch nicht sein, dass so viele diese winzige Siedlung kannten. Oft nahmen wir diese Gespräche einfach nicht ernst. Vielleicht waren Menschen einfach nett zum Opa und haben sich daher bloß etwas ausgedacht.

Die Männer lachten. Als ich meinen Bruder anguckte, schmunzelte er und meinte, dass unser Opa vielleicht doch nicht ganz Unrecht hatte. Es gibt tatsächlich eine Menge Menschen, deren Schicksale für immer mit diesem Ort verbunden sind. Schade, dass er jetzt nicht dabei sein kann. Er könnte sich sicherlich ins Gespräch einbringen. Meinen Bruder und mich bringt dieses Gespräch jedenfalls zum Nachdenken. So saßen wir beide. Und schweiften in unseren Gedanken. An die Pferde, die schnell wie der Steppenwind sind, an den Geschmack der Tschebureki von der Busstation, an den klaren, wolkenlosen Himmel. An den Opa, an das Dorf und daran, dass man manchmal tiefer blicken muss, um die Wahrheit zu ergründen. 

Moiseevka – vom Deportationsort zur Heimat?

Evald Kahlmann

Evald Kahlmann

Moiseevka – einst ein Deportationsort voller Leid, hat sich für viele Russlanddeutsche zur neuen Heimat entwickelt, wo Vergangenheit und Zukunft untrennbar miteinander verbunden sind.

Der Beitrag „Moiseevka – vom Deportationsort zur Heimat?“ von Evald Kalmann beleuchtet die Kollektiverfahrung derjeniger Russlanddeutscher, die während des Zweiten Weltkriegs nach Kasachstan deportiert wurden. Am Beispiel des Dorfes Moiseevka erzählt Kalmann von der Deportation und den schwierigen Lebensbedingungen in einer Sondersiedlung, aber auch von den Bemühungen der nachfolgenden Generationen, den Ort als neue Heimat zu etablieren. Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ergänzen die Reflexion über Identität, Erinnerung und Heimatgefühl.

Moiseevka – vom Deportationsort zur Heimat?

„Heimat ist da, wo ich verstehe und verstanden werde.“
– Karl Jaspers

Der russische Dichter W. Majakowski schrieb in einem Gedicht: “Ich bin ein Dichter, das macht mich interessant.“ Wenn ich diese Aussage auf mich umformulieren würde, würde sie lauten: „Ich bin ein Russlanddeutscher, damit bin ich auch interessant.“

 

Ich bin Russlanddeutscher, geboren in einem Deportationsort in Kasachstan, 65 Jahre alt, berufstätig, verheiratet und habe drei Kinder. Ich lebe seit 1991 in Deutschland. Ich bin außerehelich geboren, mein Vater war kein Russlanddeutscher.

 

Ich bin in einem kleinen Dorf namens Moiseevka[1] im Norden Kasachstans, Gebiet Pawlodar, geboren. Dorthin wurde meine Mutter, eine Russlanddeutsche, von der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen[2]  durch das verbrecherische Regime der Kommunistischen Partei der UdSSR während des Zweiten Weltkrieges deportiert. Geboren bin ich 14 Jahre nach Kriegsende und vier Jahre nach Aufhebung der NKWD-Sonderkommandantur[3].

 

Ich möchte in diesem Bericht mit vielen meiner Landsleute, die in verschiedenen Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland leben, als zeitgenössischer Zeuge auftreten, um von den Erlebnissen zu berichten, die ich, meine näheren Verwandten und die Landsleute aus meinem Dorf beim Deportationsprozess durchlitten haben. Ebenso möchte ich von den Anstrengungen erzählen, die sie auf sich genommen haben, um ihr Leben an ihrem Deportationsort wiederaufzubauen. Schließlich möchte ich darauf eingehen, wie eine neue Deportationsgeneration den Deportationsort Moiseevka in einen Heimatort umzuwandeln versuchte.

Das Schicksal der Deportierten in Moiseevka als Spiegelbild der Geschichte der Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion

Die unmenschliche und vernichtende Geschichte der Deutschen in der Sowjetunion fing noch viele Jahre vor der eigentlichen Deportation im Zweiten Weltkrieg an. Die schrecklichen Schicksale der Kollektivierung, Deportation, Hungersnot und Kriegsfolgen der Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion haben auch in fast jeder Familiengeschichte blutende Wunden hinterlassen, die bis heute nicht verheilt sind. So haben viele Großmütter und Großväter, Mütter und Väter, Tanten und Onkel und weitere Verwandte ihr Leben im Kontext der Kollektivierung und Entkulakisierung[4] verloren. Des Weiteren verstarben Hunderttausende meiner Landsleute in der sogenannten Trudarmee, einer weiteren Folge der Deportation, sowie der Kommandantur.

Am zwölften September 1941 wurden Angehörige meiner Familie zusammen mit weiteren Landsleuten aus einem Dorf in der Wolgadeutschen Republik mit dem Zug Nummer 789 von der Station Rimski-Korsakow in Viehwaggons zunächst nach Kasachstan, dann nach Pawlodar und anschließend mit dem Schiff direkt nach Moiseevka transportiert. Andere wurden nach Zhelesinka befördert und von dort mit dem Pferdewagen nach Moiseevka gebracht. Meine verstorbene Mutter und meine Tante berichteten mir vor vielen Jahren über zahlreiche Todesfälle in den Deportationszügen. Die Leichname der Toten wurden an den Haltestationen unter Anwesenheit der bewaffneten Wächter an Bahnbehörden dieser Stationen übergeben und wahrscheinlich anonym bestattet. Angehörige haben nie Informationen über die Beerdigung und den Bestattungsort erhalten.

Die in Bonn lebende Maria Warlamowa (geb. Schander), die als Kind die Deportation nach Moiseevka miterlebte, erzählte mir, als ihre Familie am Hang des Irtysch abgeladen wurde, sahen sie die ärmlichen Lehmhütten und begriffen, dass ihr Schicksal nicht zu Ende war.

Abbildung 1: Eine in 60er Jahren aus Lehm gebaute Sauna (Баня) am Ufer des Irtysch einer deutschen Familie in Moiseevka. Auf so eine Art wurden auch die Wohnhäuser gebaut.

Ihnen wurde bewusst, dass sie neu anfangen und den kommenden harten sibirischen Winter überleben mussten. Die Deportierten sollten sich selbst eine Unterkunft bauen oder auf die einheimische Bevölkerung verteilt werden, wo sie dann in deren eingeengten Haushalten wohnen sollten.

Die nach Moiseevka deportierten russlanddeutschen Männer wurden noch im Herbst/Winter 1941 und ab 1942 auch die Frauen im Alter von 15 bis 55 Jahren in die Trudarmee[5] einberufen. Hier mussten sie unter unmenschlichen Bedingungen die Zwangsarbeit leisten. So wurde auch meine Mutter, ihre Schwester und ihr Bruder 1941 bzw. 1942 einberufen. Beide Schwestern wurden im Archangelsk Gebiet (im Bezirk Kotlas und Puksoosero, 485 Kilometer voneinander entfernt) eingesetzt. Ihr Bruder aber musste jedoch in der Stadt Krasnoturinsk seine Zwangsarbeit leisten. Gleich nach der Beendigung der Kommandantur, im Jahr 1956, war der Tod meines Onkels und meiner Großmutter das Resultat dieser schweren Zeiten. Aus der großen Familie meiner Mutter erreichte lediglich meine Tante Wilma das achtzigste Lebensjahr, alle anderen Familienmitglieder sind an den Folgen der sowjetischen Herrschaft des ehemaliges Russischen Reiches umgekommen.

Moiseevka als Deportationsort

Moiseevka ist ein Dorf an der Grenze zwischen der kasachischen Stadt Pawlodar und der russischen Stadt Omsk, gelegen am Flussufer des Irtysch, des 4.248 km langen Nebenflusses des Ob. Das Dorf blickt auf eine 100-jährige Geschichte zurück. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde es von Nachfahren der russischen Siedler gegründet, in der Nähe eines ehemaligen Vorpostens der Kosakenfestung Zhelesinka. Die einheimische Bevölkerung setzte sich überwiegend aus Russen und Ukrainern zusammen. Mit dem Eintreffen der deportierten Deutschen wurde das Dorf als Sondersiedlung bestimmt, wodurch die Russlanddeutschen zur größten Siedlungsgruppe des Dorfes wurden. Die Mehrheit der neuen Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Wolgagebiet war miteinander verwandt, da sie aus dem Dorf Emeljanowka innerhalb der Republik der Wolgadeutschen stammten.

Abbildung 2: Familie Schander aus Moiseeevka (deportiert aus Emeljanovka): Mutter Ekaterina Schander (zweite von links) und ihre sechs erwachsenen Kinder

Ihre Verwandtschaftsverhältnisse und ihr gemeinsames Schicksal haben ihnen an ihrem neuen Lebensort etwas Kraft gegeben. Die gemeinsame Sprache, das Zusammenleben an einem Ort, die Kultur, die Religionszugehörigkeit, die Berufserfahrung, die nachbarschaftliche und verwandtschaftliche Hilfe erleichterten den Wolgadeutschen die Integration in die neue Umgebung des Dorfes. Verwandte, Landsleute, Nachbarn sowie neue und alte Freunde waren bereit, beim Hausbau, Sprachübersetzungen, Behördengängen, Arbeiten, der Kinderbetreuung und -erziehung und bei schulischen Schwierigkeiten zu helfen. Nicht nur das: sie unterstützten und berieten einander und ermutigten sich gegenseitig. Die langjährige Erfahrung der deutschen Kolonisten auf ihrem Leidensweg war auch hier, in der Zeit der tragischsten und schwierigsten Momente der russlanddeutschen Geschichte, eine Hilfe zur Milderung und Abfederung des schmerzlichen Niedergangs des Volkes. Die Überlebensnotwendigkeit, die russische Sprache zu lernen, sich an neue Traditionen zu gewöhnen, fremde Kulturen kennenzulernen, wieder von vorne anzufangen, sich wieder ein neues Zuhause zu bauen: Das alles sind Merkmale der russlanddeutschen Bevölkerung, die ihr geholfen haben, sich unter den neuen politischen, kriegerischen und strafrechtlichen Bedingungen neu zu definieren und zu statuieren.

Ich bewundere und frage mich gleichzeitig, woher diese Menschen ihre geistige Lebenskraft, ihre Energie und ihre Reserven nahmen und schöpften, da ihnen selbst die Kirchen als Glaubensort genommen wurden. Ihren Glauben mussten sie im Untergrund ausüben, wo sie sich heimlich zum Bibellesen oder zum gemeinsamen Gebet trafen. Aber selbst das war mit Schwierigkeiten verbunden, da die kirchlichen Amtsträger noch im Mutterdorf verhaftet und verurteilt wurden. Die strenge Überwachung in Form der Kommandantur, die Verurteilung als Feind der Sowjetunion oder als deutscher Spion und des damit verbundenen öffentlichen Drucks, die Aberkennung der Zugehörigkeit zu den Völkern der UdSSR und die darauffolgende allgemeine Perspektivlosigkeit in der ersten Phase der Verbannung führten dazu, dass sich die Menschen nur auf die existentiellen Bedürfnisse des Lebens konzentrierten.

Das Ende des Krieges brachte nur langsam und zögerlich positive Aussichten, allerdings nur im privaten Bereich. Ortswechsel waren noch streng verboten und polizeilich reglementiert, die Rückkehr in die alten Wohnorte waren damit für immer verwehrt. Die Zusammenführung der Familien, die Rückkehr der Mütter, Väter und Kinder aus der Trudarmee oder aus den Gefängnissen in die Verbannungsorte, die Lockerung der Reglementierung des Lebens und die Aufhebung der Kommandantur erfolgten erst viele Jahre später, im Jahr 1955. Erst dann begann das Leben meiner deutschen Landsleute: Viele haben gebaut, Kinder wurden geboren, die Nachkriegsgeneration ging zur Schule, lernte einen Beruf, heiratete und bekam Kinder.

Äußerlich schien bei den neuen Bewohnerinnen und Bewohnern von Moiseevka wieder alles in Ordnung zu sein, sie hatten den Standard eines normalen Bürgers der Sowjetunion erreicht, viele übertrafen diesen Standard sogar aufgrund ihrer landwirtschaftlichen Erfahrungen, ihrer gegenseitigen Unterstützung und ihrer organisierten Arbeitsweise.

Innerlich war sich die Allgemeinheit der deportierten Russlanddeutschen aber immer noch nicht im Klaren, ob die Bestrafung ihres Volkes aufgrund falscher Anschuldigungen immer noch besteht. Sind sie wieder frei? Dürfen sie wieder zurück in ihre Heimat? Wird ihre Staatlichkeit ebenfalls wiederhergestellt?

Zu einem Zeitpunkt während der politischen Tauwetterphase unter Nikita Chruschtschow wurden die erhobenen Anschuldigungen gegen die Russlanddeutschen als falsch anerkannt. Daraufhin wurde eine „taktische“ Rehabilitation vorgenommen, welche die Aufhebung der Anschuldigungen zur Folge hatte, während die verhängte Strafe und das Strafmaß jedoch bestehen blieben. Die Russlanddeutschen waren in der Konsequenz einer Straftat ohne strafrechtliche Verurteilung einer Bestrafung ausgesetzt. Meine im Jahr 1971 verstorbene Mutter sowie zahlreiche Landsleute im Dorf hegten überraschenderweise zu keiner Zeit den Wunsch, in ihre ehemalige Heimat an der Wolga zurückzukehren. Die Erinnerung an das Leben dort, das sie als „Zuhause“ bezeichneten, war stets präsent, eine Rückkehr jedoch nie ein Thema. Für sie stellt der Ort, an dem ihre Kinder und Verwandten leben, ihr Zuhause dar. Sogar die Gräber ihrer Vorfahren an der Wolga oder in der Stadt Krasnoturinsk waren für sie nie ein Anlass, dorthin zurückzukehren. Wie zahlreiche andere Russlanddeutsche haben sie die Geschichte ihrer Vorfahren nachvollzogen, von kleinen deutschen Staaten aus aufbrachen, um sich in den grenzlosen Gebieten zuerst des Russischen Reiches und später des Sowjetreiches niederzulassen. Dabei haben sie Gräber zurückgelassen, sind aber immer wieder aufgebrochen und waren somit ein Volk auf dem Weg. Ob der Weg selbst als ihre Heimat betrachtet werden kann, steht dabei offen…

 

Die Erfahrungen der Nachkriegsgeneration

Ich bin nach dem Zweiten Weltkrieg geboren, in der Sowjetunion wurden die Nachkriegsjahre häufig auch mit dem Begriff „Babyboom“ gekennzeichnet. Dies resultierte daraus, dass die Anzahl der Geburten in dieser Zeit signifikant anstieg. Schulen in Kasachstan waren in dieser Periode mit einer hohen Anzahl von Schülerinnen und Schülern konfrontiert. Die durchschnittliche Größe der Schulklassen lag bei 20 bis 25 Kindern, wobei diese Zahlen durch den hohen Anteil an deportierten Russlanddeutschen in der Bevölkerung noch weiter in die Höhe getrieben wurden. Diese Bevölkerungsgruppe stellte mehr als die Hälfte der Bevölkerung von Moiseevka dar, weshalb auch die Mehrheit der Kinder deutsche Muttersprachlerinnen und Muttersprachler waren.

Abbildung 3: Russische, ukrainische und deutsche Schulkinder aus Moiseevka in den sechziger Jahren

Bei nahezu allen russlanddeutschen Kindern konnte festgestellt werden, dass sie den Dialekt ihrer Eltern verstanden und diesen auch selbst sprachen. Dieser Dialekt entstand in den Mutterkolonien und wurde von den Eltern mit in die neuen Vertreibungsorte gebracht. Die Deportierten, welche noch in den Mutterkolonien eine deutsche Schule besucht hatten, beherrschten Deutsch in Wort und Schrift. Eine andere Entwicklung zeigte sich hingegen bei denjenigen, die erst nach der Deportation eingeschult worden waren. Sie waren nur in der gesprochenen deutschen Sprache der früheren Kolonien des sowjetischen Reiches zu Hause.

Die Vermittlung der deutschen Sprache erfolgte nicht in der Muttersprache, sondern in Form von Deutsch als Fremdsprache. Dabei wurde die Beherrschung der Dialektformen sowie die kulturelle Identität der deutschen Kinder nicht berücksichtigt. In den Schulbüchern wurde nicht einmal die Tatsache erwähnt, dass es in der Sowjetunion eine Wolgadeutsche Republik sowie Siedlungsgebiete in verschiedenen Republiken der UdSSR gab. Nicht in allen Familien der Deutschen wurde über diese Thematik gesprochen, da die Deportierten noch immer Angst hatten dafür bestraft zu werden. Die kompakten Siedlungen der Deutschen, zu denen auch Moiseevka zählte, waren ausschlaggebend dafür, dass die deutsche Sprache gesprochen und deutsche Traditionen und Gebräuche beibehalten wurden. Deutsch stellte für die älteren Generationen eine Kommunikationssprache dar, während die jüngere Generation, die im Deportationsort der Eltern aufgewachsen war, sich nur selten auf Deutsch unterhielt. Außerhalb des Hauses nutzten die deutschen Kinder für die Kommunikation untereinander lediglich die russische Sprache, da sie keine Unterstützung in der Verwendung der deutschen Sprache erhielten.

Wir als erste Generation, die im Deportationsort geboren wurde, spürten unsere Zugehörigkeit zu dem Volk der Russlanddeutschen; der Schicksalsweg unserer Großeltern und Eltern war in aller Munde. Wir sind damit geboren und haben damit auch unser ganzes Leben lang gelebt. Die große Tragödie des Volkes war für uns allgegenwärtig. Die Sitten und Gebräuche waren sehr stark verankert im Leben der ehemaligen deutschen Kolonisten. Dies gilt auch für den christlichen Glauben: auch wenn die Deportierten keinen Glaubensort in Form einer Kirche mehr hatten, hielten sie dennoch innerlich an ihrem Glauben fest.

Gleichzeitig war unseren Eltern und der neueren Generation in den Zeiten der Sowjetunion klar, dass die Verbannung unter diesem Regime für immer sein wird. Deswegen wurde von vielen Betroffenen alles unternommen, um das Leben so zu gestalten, als ob sie hier in Moiseevka auch für immer bleiben würden und das Dorf ihre Heimat sein sollte. Die Beständigkeit vieler Häuser der Russlanddeutschen nahm zu, da sie diese nun nicht mehr aus Lehm, sondern aus Holz und Steinen bauten. Weiterhin haben sie sich für die Sachen des Dorfes eingesetzt: der Bau einer neuen Schule, die Eröffnung eines Kindergartens, eines Postamtes, eines Kinosaals und eines Dorfgemeinschaftshauses, in welchen Freizeitangebote für Kinder und Erwachsenen stattfanden. Ein Blasorchester wurde ins Leben gerufen, Musikgruppen wurden organisiert und sogar ein Kulturprogramm für junge Menschen wurde weit über die Grenze des Dorfes bekannt. Im Hinblick auf die Landwirtschaft wurden die Russlanddeutschen zu Spezialisten. All diese Neuerungen konnten nur mit Unterstützung der Bezirkslandwirtschaftsbetriebe geschehen, da sie auch Interesse daran hatten, dass viele junge Menschen im Dorf bleiben würden oder nach der Ausbildung wieder zurückkommen würden.

Die Zeit der Perestrojka hat den Traum der älteren Generation von einer Wiederherstellung der Republik an der Wolga wieder ins Leben gerufen. Die Absage durch die sowjetische und dann auch durch die russische Regierung brachte diesen Traum jedoch zum Platzen. Dies war unter anderem der maßgebliche Auslöser der Massenaussiedlung der deutschen Bevölkerung aus der Sowjetunion, Kasachstan (auch Moiseevka) und anderen Deportationsländern in die Bundesrepublik Deutschland.

Rückkehr in die Heimat unserer Vorfahren

95 % der Deutschen aus Moiseevka leben zurzeit verstreut in verschiedenen Teilen Deutschlands. Eine große Zahl der Familien lebt kompakt in Bayern in der Stadt Dingolfing und sind glücklich integriert in die deutsche Gesellschaft: Sie haben sich schnell die hochdeutsche Sprache angeeignet, (wieder) Häuser gebaut, Arbeit gefunden und Kinder bekommen. Die Leute, welche die Deportation selbst, als Erwachsene oder Erwachsener oder als Kind, erlebt haben, sind bereits verstorben oder sehr alt. Deren Kinder wiederum sind jetzt auch schon älter bzw. alt geworden und genau die Menschen (zu denen auch ich gehöre), die in dem Deportationsort geboren sind und Ihrer Kindheit verbracht haben, sucht nach ihrer Identität.

Fazit

Im Zuge meiner Auseinandersetzung mit dem Thema habe ich mich dazu entschlossen einige meiner Landsleute, welche ebenfalls in Moiseevka gelebt haben, zu befragen. Dabei bin auf interessante Sichtweisen gestoßen.

Meine Interviews zur Frage „Was ist zurzeit Moiseevka für Sie?“ habe ich mit vier Personen durchgeführt: Frau Irma Schander. (1951, wohnhaft Dingolfing); Frau Olga Bauer (1956, wohnhaft Bonn); Frau Lydia Taskaeva. (1952, wohnhaft Deutschland); Herr Wladimir Bach (1959, wohnhaft Dingolfing). Diese Personen haben nicht die Deportation selbst miterlebt, aber durchaus ihre Folgen.  

Sie haben das Dorf Moiseevka zwar durchaus als Verbannungsort ihrer Eltern wahrgenommen, aber für sich selbst primär als Heimat betrachtet und sich mit Nostalgie an eine glückliche und gemeinsame Vergangenheit erinnert.

Eine zweite Frage habe ich an folgende Personen gestellt: Frau Emilia Greilig, geb. Wenzrig, (1931, wohnhaft Dingolfing) und Frau Olga Laber, geb. Schander, (1934, wohnhaft Wertheim). Diese haben die Deportation als Kinder miterlebt.

Meine Frage an sie lautete: „Haben Sie bzw. Ihre Eltern nach der Deportation jemals den Wunsch gehabt an ihren Geburtsort zurückzukehren?“.

Die Antworten beider waren eindeutig: Nein. Die Begründung dafür war, dass sie sich bereits in Moiseevka eingelebt hatten und sich nicht vorstellen konnten als einzelne Person oder Familie zurückzukehren.

Das Fazit meiner Arbeit zum Thema „Moiseevka – vom Deportationsort zur Heimat?“ lautet wie folgt:

Das Dorf im Norden von Kasachstan wird in der russlanddeutschen Geschichte als schrecklicher, kalter und fremder Verbannungsort im kollektiven Gedächtnis meines Volkes verankert bleiben. Dieses Unrecht der stalinistischen Führung der Sowjetunion gegenüber unserer Volksgruppe sollte niemals vergessen werden.

Gleichermaßen hat sich Moiseevka für die deutsche Nachdeportations-Generation zum Heimatort entwickelt. Die Erfahrungen und die Geschichte der Russlanddeutschen haben ihnen dabei geholfen, Kraft zu schöpfen und den Verbannungsort in eine neue Heimat umzuwandeln.

Fußnoten:

[1] Siehe Landkarte im Anhang

[2] Siehe Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte des östlichen Europas

[3] Siehe Eisfeld, Alfred, Viktor Herdt. Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee: ‚Deutsche in der Sowjetunion 1941 bis 1956. Köln: Verlag Wissenschaft und Politik, 1956

[4] Lexikon der Russlanddeutschen. Hrsg. v. Hans- Joachim Kathe und Wilfried Morgenstern.- Berlin.-2000

[5] Die Deutschen in Russland. Teil III. Hrsg. V. Hans-Joachim Kathe und Wilfried Morgenstern.- Berlin. 1998

Anhang

Abbildung 4: Die rot markierte Stelle im Nordosten Kasachstans deutet Dorf Moiseevka an

Literatur- und Bilderverzeichnis

  • Die Deutschen in Russland. Teil I, Teil II, Teil III. Hrsg. v. Hans-Joachim Kathe und Wilfried Morgenstern.- 2000
  • Eisfeld, Alfred, Viktor Herdt. Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee: Deutsche in der Sowjetunion 1941 bis 1956. Köln: Verlag Wissenschaft und Politik, 1956
  • Lexikon der Russlanddeutschen. Hrsg. v. Hans-Joachim Kathe und Wilfried Morgenstern.-Berlin.- 2000
  • Online- Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa
  • Геман А. А. История Республики немцев Поволжья в событиях, фактах,докумертах.-М.:Готика, 2000
  • Забвению не подлежит/Составители Болтина В.Д.,Шевелёва Л.В.-Павлодар
  • Из истории немцев Павлодарского Прииртышья/Составители Болтина В.Д., ШевелёваЛ.В.- Павдодар
  • Край Железинский/Составители Болтина В.Д.,Шевелёва Л.В.- Павлодар
  • Очерки истории Павлодарского Прииртышья
  • Открытый список сайт
  • «Павлодарская область в Великой Отечественной Войне»/Составители Болтина В.Д.,Шевелёва Л.В.-Павдодар.
  • Хронограф Павлодарскрй области 1938-2008
  • Шпак А. Депортация немцев Поволжья в 1941году сведения об эшелонах
  • Яков Геринг: «Вся моя жизнь для людей» Павлодар