Die ewige Wiederkehr des Gleichen

Der Beitrag befasst sich bewusst nicht mit der politischen Seite des Ukrainekriegs, sondern mit der menschlichen. Es ist ein philosophisches Sinnieren über das Leben dreier Frauen, von denen jede die jeweils andere sein könnte. Der Text soll deutlich machen, dass Politik und Krieg vergänglich sind, Emotionen und Menschlichkeit jedoch einer ewigen Wiederkehr des Gleichen folgen.

 

Die ewige Wiederkehr des Gleichen

 

„Lass uns nicht über Politik sprechen. Denn in einem Punkt sind wir uns zumindest einig: Krieg ist grausam und wir alle wollen ihn nicht.“ Diese Sätze sage ich seit Februar 2022 häufiger als je zuvor in meinem Leben. Immer wieder soll ich Stellung beziehen, mich zu Putin äußern oder erzählen, wie das Leben in Russland denn gerade so ist. Das weiß ich nicht. Was ich aber weiß, ist, dass an Krieg immer die am meisten leiden, die nicht Teil der Regierung sind.
Ich habe darüber nachgedacht, was die Menschen in der Ukraine und Russland verbinden könnte, und bin zu dem Schluss gekommen, dass sie eine wichtige Gemeinsamkeit haben: ihre Emotionen. Und wenn das bei ihnen so ist, ist es bei allen anderen auf diesem Planeten auch so und das schon seit Anbeginn der Menschheit. Und auch in Zukunft werden wir empfinden und das immer so weiter. Ein ewiger Kreislauf menschlicher Leben und Emotionen, wie in Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen.
Deswegen möchte ich in diesem Text nicht über Krieg oder Politik sprechen, sondern über Menschen. Genauer gesagt drei Frauen: der Russin Katharina, der Ukrainerin Viktoria und der Russlanddeutschen Jana, die vor, während und nach dem Ukrainekrieg leben. Jede von ihnen könnte die jeweils andere sein. Sie alle lieben, hassen, fühlen, hören, kreieren, schreien, weinen und leiden.


In der ewigen Wiederkehr des Gleichen.

 

Stell dir vor:
Jeder Wimpernschlag, jede Sekunde, jede Minute, Stunde, Tage, Jahre, jedes Leben…
…werden ewig wiederkehren, in einer unendlichen Schleife. Und jedes Gefühl, jeder Gedanke, Schmerz, Freude, Hass, Liebe, jeder noch so glückliche und unglückliche Moment deines Lebens wird dir immer und immer und immer und immer…

…wieder bevorstehen. Du wirst jedes Geräusch unendlich oft fühlen, jeden Geschmack unendlich oft sehen, jeden Augenaufschlag riechen, jeden Duft hören und jede Berührung wirst du auf der Zunge schmecken…
Jana war noch ein Kind, als sie das erste Mal in das weiche Kissen aus Teig gebissen hat, in das handwarme selbstgebackene Brot ihrer Mutter. Das Rezept und die Tradition, dazu ein kaltes Glas Milch zu trinken und selbstgekochte Marmelade zu essen, hat sie sich bis heute bewahrt. Es ist wieder einer dieser Tage, an denen der Geschmack ihrer Kindheit sie vermutlich in Melancholie hüllen wird. Denn sie hat gebacken. Der Duft schwebt für die Nase sichtbar noch in der Wohnung und das, obwohl das Brot, eingewickelt in ein Küchentuch wie ein Säugling, mittlerweile abgekühlt ist. Sie öffnet den Kühlschrank, um die Milch und die Marmelade herauszuholen. Auf halbem Wee strömt ihr der betörende Geruch des reifen Stücks Wassermelone in die Nase, das sie gestern auf dem Markt gekauft hat. Das hat sie beinahe vergessen. Sie lässt kurzerhand Milch und Marmelade stehen und greift stattdessen nach der Butter und der Melone. Mit dem Messer schneidet sie eine klaffende Wunde in das rote Fruchtfleisch und Erinnerungen strömen wie Blut aus ihr heraus…


…Erinnerungen an die Panik und das Entsetzen im Gesicht der jungen Frau, die verzweifelt ihr Kind suchte und dabei ihren Verstand verlor. Viktoria und sie sind zusammen im Bunker gesessen – in der Dunkelheit, der Farblosigkeit und dem Chaos. Jammern und Lachen, Hoffnungslosigkeit und Zuversicht, Zittern wie Espenlaub bei jedem Donnern über ihren Köpfen. Sie erinnert sich an ihre eigene Angst um ihre Tochter, die zuhause geblieben ist. Dort, wo geschossen, belagert, gebombt und vermint wurde. Der Pinsel in ihrer Hand bebt.

 

…Erinnerungen an die Hitze und Dürre und dazu den Geschmack der köstlichsten Wassermelonen, die sie je in ihrem Leben gegessen hat. Sie kann den andersartigen Ort immer noch fühlen. Das Klima, das pralle Früchte reifen lässt und ihre kindliche Haut knusprig braun färbt. Das nasse Laken, das sich nachts an ihren Körper schmiegt, um sie vor dem Erdrücken der schweren Luft zu schützen. Die schwelende Glut der Mittagssonne, die ihre nackten Kinderfüße zu einem brennenden Tanz auf dem Asphalt zwingt. Langsam, wie ein Schatten, gleitet das vertraute Trauma aus ihrem Unterbewusstsein. Das Wasser…


…die Höhe, bei der ihre Knie weich werden. Katharina spürt, wie sie schwindelt, das rasende Pochen, das Rauschen in den Ohren, der Sog der Dunkelheit…


…das sie in den Abgrund zieht, ihr die Kehle zuschnürt und ihren Atem in kleine Bläschen einschließt. Und die Angst…, die seitdem in offenen Gewässern…


…dem Flugzeug…


…nach ihr greift und ihr mit nassen Klauen die Ohren zudrückt. So schwer und betäubend, wie das Gewicht der Explosionen, das von der dichten Luft dieses Ortes getragen werden kann… deren Echo sie bis heute noch hört.
Wie durch Honig, kämpfen sich die Gedanken schwerfällig zurück ins Jetzt. Und zur Wassermelone. Die vor ihr liegt, zerschnitten in Stücke, mittlerweile in einer kleinen Pfütze aus süßem, rotem Saft…


…rotverfärbtem Wasser in einem alten Glas. Sie taucht den Pinsel hinein, um ihn auszuspülen und erzeugt Schwaden grauen Nebels. Sie hat jegliches Zeitgefühl verloren. Wenn sie malt, verfällt sie in Trance. Katharina sieht wieder auf die Leinwand und das weiße Loch, die leere Fläche in der Mitte des blau gerahmten Fensters mit Ausblick auf einen wundervollen Garten saugt ihre Aufmerksamkeit ein. Da soll sie hin, ihre Mutter. Die Schneiderin, mit einer Bahn wallenden Stoffes auf dem Schoß. In ihr Gesicht wird sie nachdenkliche, melancholische Züge malen…


…daneben zwei Scheiben Brot, belegt mit dicken Streifen Butter, wie sie es am liebsten mag. Sie setzt sich mit dem Teller an den Esstisch. Vor ihr steht ihre Lieblingsvase, bestückt mit berauschenden, dunkelroten Rosen. Die Komposition ihres Duftes perfektioniert das Sinneskonzert.
Die hat sie ihr heute zu ihrem Geburtstag geschenkt. Sie fehlt ihr, ihre Tochter. Und das Theater fehlt ihr, die Stadt, das geschäftige Treiben, ihr Zuhause. Was Viktoria mitgenommen hat, ist die Malerei. Hier kann sie malen, die Leinwand mit ihren Gefühlen überschwemmen, mit einem wilden Wasserfall aus Farben. Alles, was sie sieht, wird in Pigmenten für die Ewigkeit eingeschlossen. Jede Stadt, jeder Garten, jedes Mauerwerk, jeder Mensch, der ihr auf dieser Reise durch Schmerz und Heimweh Linderung schafft. Die Schenkerin der Rosen – sie wird sie auch porträtieren, darin verewigt Erinnerung und Dankbarkeit.
Schließlich beißt Jana in das Stück ihrer Vergangenheit und wie ein reißender Fluss überschwemmt der Saft der Melone sofort das Innere ihres Mundes. Der Bissen Brot treibt wirbelnd auf seinen Wogen, saugt sich damit voll. Bis er zu schwer wird und wie ein Stein langsam auf den Grund ihres Magens sinkt. Ihr Blick richtet sich auf die gegenüberliegende Wand… und sie hält entsetzt inne. Sie könnte schwören, sie hätte das Gesicht ihrer Tochter auf einem Gemälde gesehen…
…ein kleines Porträt, das sie sich in einem besonderen Rahmen an die Wand hängen kann, um sich immer an sie zu erinnern.


Das wird sie ihr schenken, für ihr Nähzimmer. Katharina steht auf und geht wenige Schritte zurück, um alle Pinselstriche in eine Einheit zu bringen. Sie sieht sie schon vor sich, wie sie diesen weißen Fleck mit Leben füllt.


Jana legt eine Hand auf ihre Brust und atmet tief durch. Eine Weile sitzt sie da, wie erstarrt. Schließlich springt sie auf, geht zum Telefon und beginnt zu wählen. Sie kennt die Nummer ihrer Tochter auswendig und heute lässt sie für sie ihre Melancholie im Kühlschrank zurück.
Viktoria wählt die Nummer. Begleitet von der entsetzlichen Ungewissheit, ob sie auch heute wieder rangeht.


Ihr Handy summt laut auf. Es ist sie. Als sie rangeht, versucht sie ihre Stimme ruhig klingen zu lassen und erzählt, dass sie gerade malt.
Sie malt…
…sie malt.

 

 

 

 

Fotografien: Christina Cuna
Gemälde: Valentyna Plavun, Christina Cuna
Interaktive Kunstinstallation: WE ARE VIDEO (Christian Gasteiger, Raphael Kurig)