Was nimmst du mit?

Was nimmst du mit?

Auf den ersten Blick handelt es sich bei diesem Beitrag um ein alltägliches Thema wie Kofferpacken. Doch durch diese Metapher versucht Elisabeth Sacharov eine wichtige Botschaft zu vermitteln: Alle Migrant*innen haben viel gemeinsam, aber bringen genauso viele unterschiedliche Perspektiven, Erfahrungen sowie traumatischen Erfahrungen mit. Dies sollte allerdings kein Problem darstellen, sondern den Austausch sowie gegenseitiges Empowerment anregen.

 

Sie reichte mir eine Tasse Tee und ich glaube, ich habe sie noch nie so strahlend gesehen, wie an diesem sonnigen Ostermontag. Lag das wohl an ihrer schneeweißen Tracht, mit der sie so schön aussah? Aber genauer gesagt, lag es an der Geschichte, die das gestrickte Hemd mit sich trug. Dieses Hemd nennt sich übrigens Wyschywanka und ist mit der ukrainischen Kultur unzertrennlich verbunden: Es wird den Neugeborenen angezogen, an Feiertagen getragen und damit wird sogar der letzte Abschied von einem Menschen genommen. Für Olga war das Hemd auch von großer Bedeutung. Sie erzählte mir, dass die Wyschywanka, die sie gerade anhatte, von ihrer Urgroßmutter von Hand genäht wurde und dass sie sehr glücklich sei, diese wieder bei sich zu haben. Denn als sie mit ihrem Sohn vor einem halben Jahr nach Deutschland geflüchtet sei, konnte sie das Kleidungsstück nicht mitnehmen. Im Rucksack gebe es kein Platz mehr. Das habe sie im Nachhinein sehr betrübt.

 

Ich schaue mir die roten Strickmuster an und versinke in meinen Gedanken. Ich kann mir gar nicht ausmalen wie schrecklich es ist, unter den heulenden Sirenen das Nötigste zu packen und versuchen dabei den klaren Verstand zu bewahren. Was ich aber ganz genau nachempfinden kann, ist das Gefühl von Fassungslosigkeit, wenn man umgeben von tausenden Gegenständen vor dem offenen Koffer steht. „Was davon nehme ich denn mit?“ Den Reisepass, die Geburtsurkunde, Zeugnisse, anderer Papierkram. Medikamente, die Zahnbürste, das Shampoo. Etwas zum Anziehen, wenn es warm wird, vielleicht auch paar Jacken und Schuhe, wäre gar nicht so verkehrt. Die Tasche wird langsam voll, aber es passen noch paar Sachen rein. Und was ist mit dem Rest? Verkaufen? Verschenken? Einfach vergessen?

 

 

 

Doch es gibt noch ein anderes Gepäck. Bei diesem Gepäck kann man nicht entscheiden, was man mitnimmt und was man zurücklässt. Wir tragen es, unabhängig davon, wo wir hingehen, ob wir es wollen oder nicht. In diesem riesigen Koffer sind unsere Vergangenheit und unsere Zukunftsaussichten, Rückschläge und Erfolgserlebnisse, Ohnmacht und Kraft. Man kann nicht beurteilen, wessen Koffer schwerer zu tragen ist. Denn bei jedem sieht das Gepäck anders aus. Unsere Schicksale, unsere Erfahrungen und unsere Schmerzen unterscheiden sich drastisch. Doch merkwürdigerweise ist dieses Gepäck genau das, was uns alle miteinander verbindet. Und anstatt zu vergleichen, wessen Bürde größer ist, sollen wir einfach lernen, uns gegenseitig zu helfen. Und wenn man sieht, dass jemand friert, sollte man einfach einen warmen Pullover auspacken, anstatt zu fragen warum derjenige nichts dabei hat.

 

Während Olga und ich unseren Tee trinken, kommen wir zum Schluss, dass die meisten materiellen Dinge, die man mitnimmt, gar nicht so wichtig sind wie man es vielleicht behauptet. Eines Tages hat man alles, dann auf einmal gar nichts mehr und später hat man es wieder. Das Einzige, was für immer bleibt sind unsere Gefühle, die wir mit den konkreten Gegenständen verbinden.

 

Ich schaue mir die Teetasse an. Plötzlich fällt mir auf, dass ich die kleinen Porzellantassen von meiner Oma sehr vermisse. Ich würde sie gerne mitnehmen, wenn ich wieder zu Besuch in meiner alten Heimat bin. Und du? Was nimmst du mit?

 

 

 

Elisabeth die Große, wie alles (nicht) begann

Elisabeth die Große, wie alles (nicht) begann

Wie wurde und wird (Russland-)Deutsche Identität und Zugehörigkeit individuell ausgehandelt und erlebt? Wie hat sich der erweiterte Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine darauf ausgewirkt? Anhand von drei Perspektiven wird diesen Fragen exemplarisch nachgegangen: drei Frauen im Spannungsfeld zwischen (Familien-) Geschichte, russlanddeutscher Herkunft und einer deutsch-deutschen Gesellschaft, die nicht immer viel damit anfangen kann. Geschichten über Zwiespalt – zwischen einer oft vergessenen, oder nie gekannten, Vergangenheit und einer Gegenwart, in der es einen Platz zu finden gilt. Geschichten von Ambivalenz, Aushandlung und schließlich – Ankommen(?)

Zwischen den Stühlen

 

Deutsch sein. Was heißt das eigentlich? Das habe ich mich in meiner Kindheit, Jugend und noch im jungen Erwachsenenalter häufiger gefragt. Vor allem wenn ich mich mal wieder eben nicht ganz „deutsch-deutsch“ gefühlt habe. Zum Beispiel bei der regelmäßig gestellten Frage, ob ich Russin sei, wenn ich mich mit meinem Vornamen – Tatjana – vorstellte. Oder als mir das erste Mal bewusst wurde, dass meine Mutter mit russischem Akzent spricht.

Gehen wir etwas weiter zurück in die Vergangenheit, so stellte sich diese Frage meist gar nicht. Aufgewachsen in einem kleinen Ort in Niedersachsen, wusste mein Umfeld gefühlt besser um meine Identität als ich. Oder etwa doch nicht? In der Grundschule werde ich eines Nachmittags auf dem Heimweg von einem Mitschüler verfolgt. Er ist größer und stärker als ich und kommt mir immer näher. Dabei ruft er immer wieder „Scheiß Russen“. Damit war ich gemeint. Weder er noch ich wussten so recht, dass ich eigentlich keine Russin bin. Scheinbar auch nicht seine Eltern, denn wie kommt ein Junge im Grundschulalter darauf über scheiß Russen zu schimpfen, die nicht einmal Russen sind. Der Hass, der mir entgegenschlug, war auf jeden Fall sehr real. Genauso wie die Wut meiner Mutter und dann das ehrliche Entsetzen meiner Klassenlehrerin, als diese von dem Vorfall erfuhr. Diese Situation ist ein sehr frühes und explizites Beispiel, wie sich die beidseitige Unwissenheit über russlanddeutsche Geschichte, warum es Russlanddeutsche heißt, letztlich oft aber auch egal war, in meiner Erfahrung niedergeschlagen hat.

 

Ich war also keine Russin, aber offenbar auch keine „richtige“ Deutsche. Meine Eltern sind 1992 als Aussiedler aus Russland nach Deutschland gekommen. Ich bin 1993 bereits in Deutschland geboren. Wozu machte mich das? Zuhause wurde zwar auf ausdrückliches Bestehen meiner Eltern vorwiegend deutsch gesprochen. Doch spätestens im erweiterten Familienkreis gehörte auch das Russische dazu. Und noch so ein „komisches“ Deutsch. „Po Schwabski“ redeten Oma und Opa. Pelmeni, Kotleti, Golubtsi, Blinchiki, Piroshki, Borschtsch (natürlich) – schnell bemerkte ich, dass andere Kinder diese Speisen nicht kannten. Meine Kindergartenfreundin – bei deren Familie auf dem Bauernhof ich manche meiner schönsten Kindheitserinnerungen sammeln durfte, bei denen immer gemeinsam zu Abend gegessen wurde mit Tischgebet und frischer Kuhmilch, bei denen ich Plattdeutsch verstehen lernte, die aber genauso gerne bei uns zu Besuch war – liebte es, wenn meine Mama Pelmeni kochte. Meine beste Grundschulfreundin, die mich bat, ihr Russisch beizubringen, die heute noch eine meiner engsten Freundinnen ist und mich Tanjuscha nennt. Das sind nur zwei schöne Beispiele, bei denen Unterschiede Besonderheiten sein durften. Wo sie wertschätzend angenommen wurden und einfach sein durften, statt problematisiert zu werden.

Der Übergang zum Gymnasium stellte bei mir persönlich einen gewissen Bruch dar. Dass ich an der privaten Mädchenschule (overrated) angenommen wurde und die Tochter von Bekannten nicht, sorgte für Empörung. Als ich dann auch noch gute (schlimmstenfalls bessere) Noten hatte, stieß das einigen bitter auf. In der siebten Klasse ging ich am Tag der Zeugnisvergabe nachmittags mit meiner Mutter zum Bäcker, wo die Verkäuferin mich just auf meinen Einserschnitt ansprach – Just Dorf-things? Ich war eine von wenigen russlanddeutschen Mädchen in unserem Jahrgang, man konnte uns an einer Hand abzählen. Der Großteil der Schülerinnenschaft war weiß, deutsch und kam aus wohlhabenden Familien.

 

So fiel ich spätestens am Gymnasium auch optisch insofern auf, als dass meine Kleidung seltener von EDC als von Aldi oder Lidl kam. Dass das wenig mit Russisch (oder was auch immer) -sein und mehr mit dem dickeren Geldbeutel der meisten deutsch-deutschen Eltern zu tun hatte, konnte ich damals noch nicht so ganz auseinanderhalten.

Noch in der Oberstufe stellte meine Lehrerin im Deutsch-Leistungskurs bei der Besprechung der mündlichen Noten anerkennend fest, wie gut ich Deutsch spreche. Verwirrung meinerseits über die Verwirrung ihrerseits. „Naja, wir sprechen zuhause Deutsch“ merkte ich an und bekam ein verblüfftes „wirklich?!“ als Antwort. Ich weiß nicht, was sie erwartet hatte…

 

Gleichzeitig war ich für andere „zu deutsch“. Während ich Russisch verstand, konnte ich es lange Zeit nicht bzw. im Vergleich zu vielen gleichaltrigen Russlanddeutschen kaum sprechen. Es ergab sich so, dass ich auch eher deutsche Freundinnen hatte. Meinen Eltern, die auch in der (deutsch-deutschen) Nachbarschaft schnell Anschluss fanden, wurde vorgeworfen, sie hielten sich deshalb für etwas Besseres. Es war ein ewiges dazwischen – sein; zu deutsch, nicht deutsch genug, zu russisch, nicht russisch- genug, oder wie es so schön heißt: ne Riba ne Mjaso (weder Fisch noch Fleisch). Mein Aufwachsen war geprägt von dem Gefühl weder so richtig das Eine noch das Andere zu sein. Und von dem großen Irrglauben entweder das Eine oder das Andere sein zu müssen – sein zu können. Denn weiß man um die Geschichte von Elisabeth – pardon – Katharina der Großen und allem was danach kam, so offenbart sich die Unmöglichkeit und Unnötigkeit, sich in einer der zwei Schubladen einfinden und dort verharren zu müssen.

 

Change is coming

 

Bereits als Jugendliche begann ich mich mehr oder weniger bewusst zu weigern, irgendeine deutsch-deutsche Norm als Nonplusultra zu akzeptieren. Das äußerte sich zunächst in dem Wunsch, die gefühlt versäumte Gelegenheit Russisch zu lernen, nachzuholen. Rein pragmatisch kann das Beherrschen einer weiteren Sprache doch nur etwas Gutes sein (oder gilt das nur für Englisch, Französisch und Spanisch?). Ich begann also damit, mir das kyrillische Alphabet beizubringen. Die mehrsprachigen Produktbeschreibungen im Supermarkt waren mein Lernmaterial; in der Regel kannte ich die russischen Wörter und konnte mir so nach und nach die Buchstaben erschließen. Bei Unsicherheit wurde Mama gefragt. Ich begann mich mehr und mehr für Vielfalt an Kulturen zu begeistern und sie als Bereicherung wahrzunehmen. Mein Verhältnis zu der Frage meiner eigenen Identität, bzw. Zugehörigkeit war jedoch weiterhin nicht frei von Unsicherheit.

 

Nach dem Abitur zog es mich raus aus dem kleinen niedersächsischen Dorf; einmal über den Ozean, als Au Pair in die USA. Dort erlebte ich für mich persönlich einen Schlüsselmoment. In dem neuen Umfeld fiel ich zunächst nicht weiter auf, ein unbeschriebenes Blatt. Wäre da nicht mein Vorname. So wurde ich eines weiteren unscheinbaren Nachmittags beim Kennenlernen von einem anderen deutschen Au Pair gefragt, ob ich Russin sei. Damals reagierte ich offenbar sichtlich überfordert mit zerknirschtem Gesichtsausdruck. Was war ich denn nun? Irritiert von meiner Irritation sprach mich mein Gegenüber darauf an. Warum ich so täte, als ob das etwas Schlimmes sei? Sie käme aus einer Stadt in Bayern, wo sie viele Personen kannte, die auch aus Russland kamen. Für sie offensichtlich Normalität und Selbstverständlichkeit, frei von jeder (Ab-)Wertung. Ein Teil ihrer Familie kam aus Algerien. Von diesem „nicht-deutschen“ Teil erzählt sie ganz frei, voller Wertschätzung und Stolz. Es machte sie mit aus und gehörte zu ihr. Diese Begegnung hat mich im besten Sinne vor den Kopf gestoßen. Ich begann die verinnerlichte Unsicherheit über meine Identität zu reflektieren und zu hinterfragen, warum mich diese Frage so verunsicherte/ mir so unangenehm war. Es war eine neue Perspektive darauf, dass „anders“ sein grundsätzlich nichts Negatives bedeuten musste. Richtiger Gamechanger (danke Salima!). Während ich das ganze Thema, die ganzen (vermeintlich) unlösbaren Fragen zu meiner Identität möglichst vermieden hatte, gab diese Begegnung mir den Anstoß, mit neuen Augen auf all das zu blicken, es neu für mich zu erkunden, verinnerlichte Glaubenssätze was ich war/ was ich nicht war – was ich sein/ oder nicht sein konnte, über Bord zu werfen.

 

Situationen, bei denen ich implizit oder explizit aus einem deutsch-deutschen „Wir“ ausgeschlossen wurde, oder die gängigen Stereotype direkt oder indirekt auf mich projiziert wurden, gab und gibt es weiterhin:

Als ich eine Kommilitonin bei ihrer Familie in Augsburg besuche, nennt mich ihr Vater konsequent Natascha (close enough…?), irgendwas russisch anmutendes halt. Als mein damaliger Freund seiner Familie von mir erzählt, ist die Reaktion seines Onkels „oh nein, bloß keine Russin“ – natürlich nur ein (dummer) Witz. Lustig, lustig. Lang nicht mehr so gelacht. Nachdem er das erste Mal meine Familie besucht, fragen die Freunde erstmal „ob er auch richtig einen saufen musste“. Klassiker. „Wir“ essen unser Müsli übrigens mit Vodka, falls das nicht klar war. Als ich meinem Mitbewohner vor einigen Jahren erzähle, dass ich eine Hausarbeit über die mediale Darstellung von Russlanddeutschen schreibe, kommentiert er (leider ernsthaft) fragend: „Die wählen doch alle die AfD, oder?“. And the list goes on, aber das möge als Einblick reichen.

 

Früher reagierte ich in solchen Momenten eher unbeholfen. Dem Unwissen in meinem Umfeld konnte ich lange nichts Fundiertes entgegensetzen, weil ich es selbst nicht besser wusste. Zuhause wurde nie groß darüber geredet, warum es „Russlanddeutsche“ heißt. Wenn meine Mutter in seltenen Fällen von den Erlebnissen meiner Großmutter im Arbeitslager erzählte, konnte ich das alles gar nicht wirklich begreifen oder zuordnen, weil mir der historische Gesamtkontext, der Rahmen, um diese Informationsfetzen zusammenzusetzen, lange fehlte. Selbst als mein Vater erzählte, dass er in Russland der Deutsche war und als Faschist beschimpft wurde sowie dieser deutsche Dialekt, den meine Großeltern sprachen. All das ergab für mich lange keinen richtigen Sinn. Ohne das entsprechende Wissen konnte ich den vermeintlichen Widerspruch und darin enthaltenen Zwiespalt im RusslandDeutschen nicht für mich lösen.

 

Die Geschichte zumindest in ihren groben Zügen zu kennen war dahingehend wie eine kleine Offenbarung. Ironischerweise erinnere ich mich nicht mehr genau an diesen schicksalhaften Moment, als es Klick machte. Vielleicht war und ist es auch eher ein Prozess. Zu wissen, was es mit der russlanddeutschen Geschichte auf sich hat, war fortan wie ein Schutzschild.

Fragt mich heute jemand, ob ich Russin sei, entscheide ich tagesform- und situationsabhängig, wie ausführlich ich antworten möchte. Ob ich Lust habe, einen kurzen historischen Abriss zu geben oder mein Gegenüber mit einem kurzen „weder noch“ abspeise. Ich fühle mich nicht mehr unter Druck, mich einer Seite zuordnen zu müssen, mich entscheiden und als das eine oder andere beweisen zu müssen, u.a. indem ich mich von dem jeweils anderen abgrenze. Das war ein langer Prozess und die Ambivalenz als solche ist nicht weg. Ich empfinde sie nur (eigentlich) nicht mehr als Problem, als meine Verantwortung oder meine Unzulänglichkeit. Statt mich zu verunsichern, machen mich solche Begegnungen heute höchstens wütend. Und diese Wut maße ich mir inzwischen auch an – sorry, not sorry.

 

Meine Perspektive und die oben geschilderten Erfahrungen spiegeln lediglich mein persönliches Erleben und meine individuelle Sicht wider. Sie skizziert exemplarisch, wie russlanddeutsche Zugehörigkeit erlebt und individuell ausgehandelt werden kann. Im Folgenden möchte ich dahingehend zwei weitere Sichtweisen beleuchten und dabei auch darauf eingehen, welche Erfahrungen die von mir interviewten Personen diesbezüglich nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine gemacht haben. Disclaimer: Diese Beispiele können keinerlei Anspruch auf Repräsentativität erfüllen – es sind individuelle Perspektiven, die einen kleinen Einblick ermöglichen sollen.

 

Olga

 

Darf ich also vorstellen: Olga. Olga ist Russlanddeutsche und würde sich auch selbst so bezeichnen. Im Jahr 1995 ist sie im Alter von zwölf Jahren mit ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester aus Kasachstan nach Deutschland gekommen. Genau genommen ist sie also Kasachstandeutsche. Heute ist sie vierzig Jahre alt, verheiratet und Mutter von zwei Kindern im Alter von sieben und zwölf Jahren.

Das Ankommen in Deutschland war für sie nicht leicht. Weder sie noch ihre Eltern sprachen Deutsch, man fiel direkt auf. Besonders als Kind keine leichte und, wie im Laufe unseres Gesprächs mehrfach deutlich wird, sehr prägende Erfahrung. Besonders an die ersten Tage in der Schule kann sie sich noch gut erinnern: „Man wurde angesprochen und hat nichts verstanden und wurde dann einfach ausgelacht. Ich hatte echt Tage, da wollte ich nicht zur Schule gehen.“ Ausgrenzung von ihren MitschülerInnen gehörten zum (Schul-)Alltag. Schnell entwickelte sich der Wunsch, am liebsten nicht aufzufallen, also hat sie „versucht, sich so ein bisschen anzupassen.“

Die Eltern waren ihrerseits mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert und konnten in diesen Dingen keine große Unterstützung leisten. Die Erinnerungen an diese erste Zeit bringen in unserem Gespräch alte Emotionen hoch. „Als Kind, da hat es einem schon ziemlich viel ausgemacht. Man hat das Gefühl gehabt, man passt nicht wirklich rein.“

 

Mit der Zeit entwickelte sie aber ein neues Selbstverständnis: „Anders“ bzw. nicht „nur“ deutsch zu sein, ist inzwischen frei von Scham und negativen Konnotationen. Das Russlanddeutsche äußert sich laut Olga dabei in kleinen Dingen des Alltags. Sei es die russische Sprache, Gerichte, und auch die Wahrnehmung durch andere; man merke es allein schon an ihrer Aussprache und ihrem Namen. „Aber man steht dazu, jetzt mit vierzig Jahren.“

Inzwischen sieht sie selbst „das Russlanddeutsche“ als Bereicherung, etwas das gepflegt werden sollte und das sie dementsprechend auch an ihre Kinder weitergegeben möchte: das Wissen um die eigene Geschichte, Traditionen und nicht zuletzt die Sprache. Es sei wichtig, „die Muttersprache beizubehalten“ und „dass man sich dafür auch nicht schämen muss. Das gehört zu einem dazu und das ist auch gut so und das ist auch schön so“.

 

Sie werde von Mitmenschen immer noch häufig als Russin bezeichnet. Immer wieder macht sie die Erfahrung, dass von ihrem Umfeld nicht differenziert wird: „Es ist ja grundsätzlich erstmal die Frage, wird man als Russlanddeutsche oder als Russin gesehen. […] Das sehen halt viele nicht, für die meisten ist man einfach eine Person, die halt aus Russland kommt – egal, ob man jetzt aus Kasachstan kommt, oder was weiß ich, aus der Ukraine teilweise. Man wird einfach als Russin bezeichnet, das hört man immer wieder.“ Als Kind habe sie das mehr wahrgenommen, aber „mittlerweile hört man da einfach drüber weg vielleicht“.

 

Mit Russlands erweitertem Angriffskrieg gegen die Ukraine, wird diese mühsam zugelegte „dickere Haut“ und die damit erlangte Selbstsicherheit auf die Probe gestellt.

Sie selbst ist schockiert, als sie am 24.02.2022 davon erfährt: „Ich weiß noch, ich bin morgens wach geworden, bin bei Insta drauf und eine Freundin von mir, die aus der Ukraine kommt, hat das dann gepostet, dass Russland die Ukraine angegriffen hat – und da war man erstmal wie in Trance. Man hat irgendwie die Welt nicht mehr verstanden.“

Viel Zeit, um ihre eigenen Gefühle zu ordnen, blieb ihr nicht. Nachdem sie ihrer Freundin ihr Beileid ausgesprochen hat, bringt sie ihren Sohn zum Kindergarten und wird sogleich auf die Geschehnisse angesprochen. Eine Erzieherin fragt sie, wie sie „als Russin“ dazu stehen würde, dass Putin die Ukraine angegriffen hat. Bei der Arbeit wird sie von einem Kollegen mit den Worten „Na Putin“ begrüßt. „Da wurde mir einfach nochmal klar, dass die Leute gar nicht wissen – wer ist Russin, wer ist Russlanddeutsche. […] Dann musste ich tatsächlich nochmal aufklären, wo ich herkomme und dass das Ganze nichts mit mir als Mensch zu tun hat.“

Die Tatsache des Krieges an sich und die oben geschilderten Begegnungen, vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen als Kind, wecken bei ihr ein diffuses Gemisch aus Sorgen und Ängsten – verstärkt durch den von außen an sie herangetragenen Rechtfertigungszwang. „Da kamen halt wieder diese Ängste von früher […] ob wir jetzt benachteiligt werden“, hinzu kämen nun „Ängste um die Kinder, dass die ausgeschlossen werden durch andere […], weil die sich nicht mit der Geschichte auseinandersetzen und alle unter den Begriff ‚Russe‘ stecken.“

 

Die durch den Druck von außen verstärkte Angst und Verunsicherung wirkt auch in ihre sozialen Beziehungen hinein. Im engeren Freundeskreis kommen UkrainerInnen und (tatsächliche) RussInnen zusammen. Es drängt sich die Sorge auf: „Wird man anders behandelt oder verändert sich der Umgang untereinander?“ Wie sich herausstellt, teilen alle diese Sorge auf ihre Weise. Die Anspannung wird schließlich gelöst, indem das Thema zeitnah angesprochen wird und alle Raum haben, sich dazu zu äußern und Stellung zu beziehen. Wobei es auch zu inhaltlichen Konflikten/ Differenzen kommt. Vor allem unter den Männern habe es ein paar Reibereien gegeben – Fragen, über die sie sich nicht wirklich einigen konnten: „Der eine hat sein Land vertreten, der andere hat versucht sein Land zu vertreten und man hat halt versucht die Geschichte von was weiß ich wie vielen Jahren herauszuholen, um dem Anderen zu beweisen, dass man vielleicht im Unrecht ist – oder im Recht.“ Man würde im eigenen kleinen Rahmen jedoch nichts ändern, geschweige denn lösen können. Darauf einigten sich die Freunde schließlich – und blieben vor allem das: Freunde. Das Thema des Krieges wird fortan weitestgehend gemieden. „Wir können immer noch alle an einem Tisch sitzen“, schnell war klar, „da ändert sich so für uns nichts. Obwohl jeder mit dieser Angst zu kämpfen hatte […] die ersten Tage.“

 

Konfliktpotenzial gibt es auch mit ihren Eltern, die vor allem russisches Fernsehen konsumieren. Olga hat das Gefühl „dass die [Eltern] ihre Meinung gar nicht mehr vertreten können […] weil die so in diesem ganzen Medienzeug mitfließen.“ Sie selbst hält sich grundsätzlich von jeglicher medialen Berichterstattung fern – aus Selbstschutz. Über ihre ukrainischen FreundInnen und teilweise deren Angehörige bekommt sie gelegentlich etwas mit.

Der Krieg geht ihr „als Mensch“ nahe: „Es ist da. Und es ist schlimm, dass es immer noch nicht beendet wurde. Und es ist immer im Hinterkopf. Man kriegt es ja auch immer wieder von den Verwandten der Freunde mit.“

„Aber diese Unsicherheit, wie am Anfang, ist halt nicht mehr da.“ Von einer auf sie als Russin… äh, Russlanddeutsche, projizierten Verantwortung macht sie sich also frei und lernt den an sie herangetragenen Rechtfertigungszwang nicht an sich heranzulassen. Eine Schlüsselfunktion kommt dabei dem Wissen über die Geschichte zu und davon ausgehend dem Bewusstsein, wer sie ist: „Ich weiß, wie die Geschichte ist. Und das ist auch gut so.“

Juliane

 

Als nächstes möchte ich Euch gerne Juliane vorstellen. Wie Olga sind auch Julianes Eltern als Kinder nach Deutschland gekommen. Julianes Mutter im Alter von vierzehn Jahren aus Russland und ihr Vater im Alter von dreizehn Jahren aus Kasachstan. In Deutschland haben sie sich noch als Teenager kennen- und lieben gelernt, geheiratet, ein Haus gebaut und in einem kleinen Ort in Niedersachsen ihre Familie gegründet.

Juliane ist in Deutschland behütet aufgewachsen. Heute ist sie neunzehn Jahre alt, hat in diesem Jahr ihr Abitur absolviert und studiert nun Mathe und Deutsch auf Grundschullehramt. Befragt nach ihrem Zugehörigkeitsgefühl scheint die Antwort zunächst klar: Geboren und aufgewachsen in Deutschland fühlt sie sich als Deutsche und würde sich auch so bezeichnen. Um „später keine Probleme zu haben“, war es auch ihren Eltern ein Anliegen, dass Juliane gut Anschluss findet. Während sie von bekannten Familien berichtet, wo die Kinder teilweise bis zum Kindergarten nur Russisch lernten, sollte sie mit Deutsch als Erstsprache aufwachsen. Personen, die Juliane kennenlernen, würden sie auch als Deutsche wahrnehmen – in anderen Worten: Sie fällt auf den ersten Blick nicht als „anders“ auf. Sie gehört – wie es ihren Eltern ein Anliegen war – dazu.

 

„In meinem Umfeld merkt man mir das angeblich nicht an, dass meine Eltern woanders herkommen“ – dieses „woanders“, das Russische im Russlanddeutschen, äußere sich demnach primär im familiären Kontext.  Vor allem bei ihren Großeltern wird – im Vergleich zum Elternhaus – mehr Russisch gesprochen, es läuft russisches Fernsehen, es gibt häufiger russisches Essen. Weihnachten wird zweimal gefeiert; im Dezember und nach russisch-orthodoxer Tradition nochmal Anfang Januar.

 

In ihrem sozialen Umfeld spiele es hingegen keine, höchstens eine marginale Rolle. Ihre Freundinnen seien auch alle Deutsche. Aus ihrem (Abi-)Jahrgang wussten bspw. nur sehr wenige, eigentlich nur ihre engsten Freundinnen, dass ihre Eltern aus Russland kommen. Wenn das Thema doch mal zur Sprache kam, weil jemandem der Akzent ihrer Mutter auffiel oder sie russisches Essen dabei hatte, habe sie nur positive und interessierte Reaktionen erlebt.

Einmal auf Klassenfahrt habe sie ihren Freundinnen „dann komplett die ganze Geschichte erzählt mit dieser Elisabeth, ne…“ Juliane hält inne und wir müssen beide lachen. „Katharina“, ergänze ich lachend ihren Satz. Die Große halt.

Ihre Freundinnen fanden es sehr interessant, „dass frühere Generationen in Deutschland gelebt hätten und dann nach Russland ausgewandert sind, um dort zu helfen, das Land aufzubauen und zu etablieren und dann wieder nach Deutschland gekommen sind, um da ein besseres Leben zu haben.“ So fasst Juliane die Geschichte für sich und ihr Umfeld zusammen. Details sind dabei nicht so wichtig: „Die [ihre Vorfahren] sind vor mehreren Jahren von Deutschland nach Russland gezogen, also vielleicht die Generation davor [vor ihren Großeltern] oder davor“, das könne sie nicht genau beantworten. Das Wissen reicht, um den Begriff Russlanddeutsch grob ein- und zuordnen zu können und ihren familiären Bezug dazu zu begründen.

Ihre Eltern leben ihr einen offenen Umgang mit der eigenen Herkunft vor. Auch sie pflegen ein enges Verhältnis mit der (deutschen) Nachbarschaft. Bei dem Thema Russlanddeutsche waren diese sehr interessiert. Ein Buch über ein russlanddeutsches Dorf wurde nicht nur in der Familie, sondern auch bei den Nachbarn rumgereicht; um sich ein Bild zu machen und „ein besseres Verständnis zu haben für ‚uns’“.

Ein Zwiespalt zwischen den (vermeintlichen) zwei Seiten im RusslandDeutschen deutet sich in Julianes Fall höchstens an, scheint aber nicht so eine konflikthafte, aufgeladenen Angelegenheit für sie darzustellen. Ihre Herkunft, bzw. familiäre Geschichte sei ihr schon wichtig, wie sie betont: „Obwohl ich mich eher deutsch zugehörig fühle, [habe ich] auch dieses Russische doch irgendwie im Herzen […] und würde es nicht weggeben wollen.“

Wie entwickelt sich dieser zunächst höchstens angedeutete von ihr nicht als problematisch empfundene Zwiespalt angesichts des Angriffskrieges?

An ihrer Schule werden Freizeitangebote für ukrainische Kinder angeboten. Sie findet die Aktion gut und wichtig und möchte sich gerne engagieren und beteiligen, merkt jedoch eine große Unsicherheit. „Wenn ich wirklich ehrlich bin, hatte ich Angst zu sagen, dass ich Russin bin.“ Im schulischen Kontext wüssten ja nur wenige Personen von ihrem russlanddeutschen Hintergrund. Ihre Sorge bestand allerdings primär darin, „dass die Kinder dann sofort Angst bekommen und wegrennen“. Sie wollte die Kinder nicht unnötig verwirren und möglicherweise abschrecken. Auch Misstrauen und mögliche Ablehnung seitens der ukrainischen Eltern stellten eine Sorge dar. Letztlich entschied sie sich, nach Abwägen und in Absprache mit ihrer Familie, dagegen, ihre Russisch-Kenntnisse explizit zu thematisieren. Im Zuge der Arbeit kamen sie ihr dann doch zu Gute; im Gegensatz zu ihren auch am Projekt beteiligten Mitschülerinnen konnte sie die ukrainischen Kinder meist verstehen und so hinter den Kulissen unauffällig vermitteln, Bedürfnisse aufklären. Auch als sie einem kleinen Mädchen einmal auf Russisch antwortet, schaut dieses lediglich kurz verblüfft, rennt aber nicht verängstigt weg. Angesichts der antizipierten Fremdzuschreibung als „Russin“ aufgrund ihrer Sprachkenntnisse und der befürchteten negativen Reaktion, wechselt in diesem Kontext die Selbstbezeichnung.

Ganz anders erlebt sie das Miteinander im Sportverein. Beim Volleyball, wo ihre ganze Familie trainiert, schließen sich einige Geflüchteten aus der Ukraine der Gruppe an. In diesem Kontext kommt der zuvor geschilderte Zwiespalt überhaupt nicht auf. Im Verein seien sehr viele Russlanddeutsche und den UkrainerInnen sei das auch im Vorfeld klar gewesen. „Da haben die sich sogar gefreut, dass die jemanden hatten, mit denen sie auf ihrer Sprache sprechen können.“ Über den Sport entsteht ein Miteinander, bei dem die russische Sprache eine leichtere Kommunikation erlaubt und gewissermaßen als verbindendes Merkmal dienen kann. Es entstehen Verbindungen, die von gegenseitiger Wertschätzung geprägt sind, trotz, oder wegen des Russischen im Russlanddeutschen. Auch die eigenen Erfahrungen, bspw. von Julianes Mutter, spielen eine Rolle: zu wissen, wie es war, selbst in einem neuen Land anzukommen und sich zurechtfinden und Anschluss finden zu müssen und zu wollen. Für sie ist es selbstverständlich, bei Bedarf und Möglichkeit zu helfen und besonders eine junge ukrainische Mutter bei Angelegenheiten wie Arztbesuchen oder der Wohnungssuche zu unterstützen. Sie kann ihr inzwischen aufgebautes soziales Kapital und ihre eigene gute Vernetzung in dem kleinen Ort einsetzen, um Geflüchtete aus der Ukraine zu unterstützen.

Tatjana

Während ich Olga und Juliane zuhöre, fallen mir Unterschiede, aber auch Parallelen zu meinen eigenen Erfahrungen auf. Wie Olga, glaubte auch ich, das Thema Identität/ Zugehörigkeit mit dreißig weitestgehend für mich gelöst zu haben. Doch auch für mich stellte der 24.02.2022 dahingehend einen Einschnitt dar. Das Russlanddeutsche geriet gewissermaßen wieder mehr in den Vordergrund.

 

Als ich am Morgen des 24.02.2022 die Nachrichten über den Überfall Russlands auf die Ukraine las, empfand ich allem voran Schock und Entsetzen. Ein Teil von mir hatte es nicht für möglich gehalten, dass es so weit kommt.

Dem ersten Schock folgte schnell ein wilder Cocktail an Emotionen; die Sorte, die einen schnell und effizient umhaut. Unter Wut und Trauer mischten sich Scham und Verantwortungsgefühl, Tatendrang, bei gleichzeitig empfundener Ohnmacht. All dem zugrunde lag letztlich eine diffuse Angst, die in den kommenden Tagen und Wochen zunehmend klare Facetten annahm.

Angst vor einer unberechenbaren Zukunft – was wird mit den Menschen in der Ukraine geschehen, wie lange wird dieser Wahnsinn andauern, wird alles komplett eskalieren?

Angst vor den gesellschaftlichen Auswirkungen – wird antislawischer Rassismus in Deutschland zunehmen? Werden sich in der Gesellschaft bereits bestehende Fronten noch mehr verhärten?

Angst, wie viele Menschen die Klischees der russlanddeutschen „Putin-Ultras“ erfüllen – werden sie (wieder) die öffentliche Wahrnehmung dominieren?

Angst um den familiären Zusammenhalt – werden wir uns weitestgehend einigen können, oder an Differenzen zerbrechen? Lauter angstgeladene Fragen.

 

Wie in so vielen Familien, kam es auch bei uns zuhause zu „Reibereien“, wie Olga und Juliane es gleichermaßen nannten. Meine Eltern gehören nicht zu den Putin-Ultras, die es ja leider durchaus unter Russlanddeutschen gibt. Sie schauen kein russisches Fernsehen. Und doch bewerten sie manche Fragen etwas anders. Darüber, dass der Krieg schrecklich ist, war man sich einig. Es kam dennoch zu Konflikten, wenn es um die Rolle Russlands ging. Meine Meinung kennen sie. Aber nach teils hitzigen Auseinandersetzungen, wird auch bei uns das Thema inzwischen eher gemieden. So können auch wir weiterhin an einem Tisch sitzen. Ein Familienfrieden mit gelegentlich bitterem Beigeschmack, für den ich dennoch dankbar bin.

 

Einem Rechtfertigungszwang von außen, wie Olga ihn erlebte, war ich nicht ausgesetzt. Wie Juliane, werde auch ich heute eher deutsch gelesen und falle zunächst nicht als Russlanddeutsche auf. Ich spürte zwar keine Angst, aber doch eine gewisse Befangenheit bei der Vorstellung, wie ukrainische Menschen auf mich reagierten, wenn meine Russisch-Kenntnisse herauskämen oder ich meinen Vornamen nannte. Einmal bewusst wahrgenommen, habe ich versucht mich von diesen Befürchtungen zu lösen, um beispielsweise im Ehrenamt weiterhin offen auf Menschen zugehen zu können. In konkreten Begegnungen erwies sich jegliche Unsicherheit dahingehend, zu meiner Erleichterung, auch als unnötig.

 

Anfangs Proteste und Widerstand in Russland zu sehen, gab mir kurz Hoffnung. Auch wenn ich im Grunde wusste, dass nicht alle „so sind“, bedeutete es mir viel zu sehen, dass sich Menschen sichtbar dagegen positionierten. Auch wenn vorsichtige Hoffnungen dahingehend längst kompletter Desillusionierung weichen mussten.

Die besonders anfangs gezeigte Solidarität mit der Ukraine fand ich wichtig und richtig. Gleichzeitig stand sie für mich im Kontrast zu der Tatsache, dass auch in Deutschland lebende, meist russisch gelesene UkrainerInnen, von antislawischem Rassismus betroffen sind.

 

Soziale Medien spielten besonders in der ersten Zeit eine wichtige Rolle bei dem Versuch, irgendeinen Umgang mit der Situation zu finden und aus den Gedanken im eigenen Kopf herauszukommen. In einer glücklichen Fügung des Algorithmus stieß ich auf Ira Peters Instagram-Profil. Über sie bin ich auf weitere Personen und Formate aus der russlanddeutschen/ Post-Ost Bubble und deren Arbeit aufmerksam geworden. Diese Bubble hat mich digital aufgefangen, als ich mich mit all meinen Fragen und Ängsten, besonders in den ersten Tagen und Wochen nach dem 24.02.2022, allein fühlte. Sie gibt mir auch fortlaufend Impulse, mich weiter, bzw. neu mit Geschichte, Identität und Zugehörigkeit auseinanderzusetzen, wirft neue Fragen auf und bietet Antwortmöglichkeiten, in denen ich mich wiederfinde, oder an denen ich mich abarbeiten kann. Wie sehe und stehe ich im Verhältnis zum Rest der Gesellschaft? Wie kann und will ich zukünftig mit diesem Russischen im Russlanddeutschen umgehen? Was gilt es zu bedenken, was gibt es noch zu lernen? Lauter neue Fragen, mit denen ich nun aber nicht allein dastehe und die Handlungsfähigkeit statt Ohnmacht fördern.

 

Man wird ja wohl noch träumen dürfen

 

Die Kenntnis der Russlanddeutschen Geschichte und die Möglichkeit, sich darauf zu beziehen und sich selbst davon ausgehend in der Gesellschaft verorten zu können, spielt in allen drei zuvor geschilderten Perspektiven eine Rolle. Aber genau dieses Wissen ist oft nicht vorhanden, wird nicht vermittelt oder gepflegt.

Es gibt meines Erachtens eine kollektive Wissenslücke in der deutschen Gesellschaft. Und die betrifft nicht nur die Geschichte der Russlanddeutschen, sondern sämtliche nicht „deutsch-deutschen“ Geschichten und Erfahrungen.

Gleichzeitig habe ich auch das Gefühl, dass sich da etwas ändert. Langsam, aber sicher. Projekte, wie dieses, in dessen Rahmen ich diesen Text verfasse, sprechen dafür. Das erfüllt mich mit Hoffnung und Freude. Gleichzeitig sehe ich sehr viel Luft nach oben und eine zwingende Notwendigkeit, diese zu nutzen. Während Wissen die Grundlage für gegenseitiges Verstehen bilden kann, gilt im Umkehrschluss das Gleiche: das Fehlen dessen bietet Nährboden für Missverständnisse und Zwietracht. Das gilt nicht nur auf individueller Ebene, sondern nicht zuletzt auch bezogen auf den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt. Angesichts einer immer weiter erstarkenden menschenfeindlichen Partei, wie der AfD, scheint es mir dringender denn je, diesen gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern.

Ein wichtiges Instrument könnte und sollte dafür (institutionelle) Bildung darstellen. Unsere Elterngeneration hatte oft andere Sorgen, als uns die geschichtlichen Zusammenhänge in Gänze zu vermitteln. Es sollte auch nicht ihre alleinige Verantwortung sein. Vielmehr sollte sich die reale Vielfalt Deutschlands als Einwanderungsland auch in den Geschichten widerspiegeln, die erzählt, gelehrt, die mitgedacht werden. Der Geschichtsunterricht wäre hier ein Ansatzpunkt. Oder die LehrerInnenausbildung – man denke an meine Deutschlehrerin.

Wissensaustausch auf persönlicher Ebene kann im Rahmen von Begegnungen und Beziehungen ein wertvolles Geschenk sein. Auch ich habe von FreundInnen über ihre jeweilige Familiengeschichte lernen dürfen und persönliche Einblicke gewonnen. „Das kann natürlich keine institutionelle Bildung je ersetzen, was nicht heißt, dass sie es nicht trotzdem versuchen muss.“ Diese Worte von Gerrit Wustman treffen es für mich auf den Punkt.

Wenn ich mich also heute, wie anfangs formuliert, frage: „Deutsch-sein, was heißt das eigentlich?“, geschieht das vor einem anderen Hintergrund. Mit einem kritischeren Blick auf die deutsche Gesellschaft als Ganze (zu der ich mich inzwischen selbstverständlich dazuzähle), also mit mehr Selbstbewusstsein und weniger Identitätskrise. Stattdessen sehe ich „die“ deutsche Gesellschaft in der Verantwortung, Zugehörigkeit so umzudefinieren und zu öffnen, dass sie nicht einem exklusiven deutsch-deutschen „Wir“ vorbehalten bleibt, sondern alle Menschen in der Gesellschaft umfasst.

 

A girl can dream…

Mein nicht ganz so deutsches Leben und der Krieg um die Ukraine im Chat

Mein nicht ganz so deutsches Leben und der Krieg um die Ukraine im Chat

Der Aggressor im Krieg um die Ukraine ist das Geburtsland meiner Eltern, aber unsere Heimat ist es nicht. Ich spreche ja nicht mal russisch. In diesem Text möchte ich euch einen Einblick geben, wie sich (m)ein nicht ganz so deutsches Leben von anderen unterscheidet, wie Jahrzehnte lange Propaganda noch heute in einem anderen Land wirkt und wie man im Familienchat über das Eingezogen werden und fliehen schreibt.

„Wie der Kreml Russland belügt – und warum Russen für den Krieg sind“ titelte die Neue Züricher Zeitung am ersten April 2023. Über ein Jahr nachdem der russische Präsident Wladimir Putin den Angriffskrieg auf die Ukraine gestartet hat. Die Überschrift der NZZ steht stellvertretend für die Sichtweise vieler westlichen Medien auf die desinformierte russische Bevölkerung.

 

Es sind aber nicht nur die Menschen in Russland, die russische Medien empfangen. Die Sender Perwy kanal und RTR Planeta waren auch auf dem Fernseher bei mir zu Hause zu sehen und die Zeitungen TV Rus und Kontakt-Chance wurden nach dem Mittagessen gelesen. Ich kann kein russisch sprechen und kein Kyrill lesen, trotzdem weiß ich, wie die Nachrichtenstudios im russischen Fernsehen aussehen.

Auf unserem Tisch stehen Pelmeni, aber Russen sind wir nicht. Meine Familie hört russische Pop-Musik beim Aufräumen und deutsches Radio zum wach werden. Meine Eltern sprechen hin und wieder russisch mit mir und ich antworte ihnen auf Deutsch. Meine Eltern sind Russlanddeutsche und ich gehöre zur ersten Generation meiner Familie, die seit Jahrhunderten wieder in Deutschland geboren worden ist.

 

In der WhatsApp-Gruppe meiner Familie sind Mama, Papa, Oma, meine Tante, mein Onkel, seine Frau und ich. Es wurde schon oft über die Bedrohungen aus Russland und den USA diskutiert und dazu wurden passende Artikel aus den deutschen Nachrichten geteilt. Nichts anderes war es am Tag, als der russische Präsident den Angriffskrieg gestartet hat. Der Chatverlauf war geprägt von Angst, aktuellen Nachrichten, Sorge und den Fragen wie es unseren Verwandten und Freunden in der Ukraine geht. Dort leben die Kinder und ihre Familien der Schwester meiner Oma und ihr Bruder lebt mit seiner großen Familie in Russland. Im Krieg um die Ukraine kämpft eine Familie gegeneinander.

„Es war ein riesiger Schock, ich habe viel geweint, hatte aber keinen Zweifel daran, dass Russland für diesen Krieg verantwortlich ist“. Entgegen den Vorurteilen gegenüber Russlanddeutschen, die Einige aus meinem Heimatort haben, ist meine Familie nicht prorussisch eingestellt. Damit sind wir nicht alleine, aber auch andere Meinungen sind von Russlanddeutschen zu hören.

 

Wie die Menschen, die eine russische oder sowjetische Vergangenheit haben, mit der russischen Politik, der Kultur und dem Land verbunden sind ist generell verschieden. Der Wohnort in Russland, wie dort gelebt worden ist, der religiöse Glaube, Erfahrungen in der Schule, im Militär und viele weitere Faktoren sind daran beteiligt, wie prorussisch das Leben hier in Deutschland aussieht.

Das ehemalige Neubaugebiet, in dem wir und andere Russlanddeutsche vor achtzehn Jahren gebaut haben, wird von einigen Einheimischen noch immer als „Russenviertel“ bezeichnet. Zwei Straßen weiter wohnt von mir ein ehemaliger Klassenkamerad aus der Grundschule. Er hat versucht mit mir russisch zu sprechen und mich oft gefragt, warum ich das nicht kann. Lange wusste ich nicht,  was ich antworten soll. Ich weiß wie Plow und Manti schmecken, wie sich die Lieder von Verka Serduchka und Alla Pugatschowa anhören und, dass bei uns Geburtstage und Hochzeiten anders gefeiert werden, als bei meinen deutschen Freunden.

Irgendwann habe ich Mama gefragt, warum sie mir die Sprache nicht beibringen wollte. „Am letzten Tag in Russland, als wir alles verkauft und unsere Koffer gepackt haben, hat uns Mama nochmal alle in die Küche geholt und gesagt: „Kinder, eins möchte ich euch auf den Weg geben, egal, was passieren wird in eurem Leben, geht nie wieder zurück nach Russland.“ Deutschland war die Zukunft. Es war wichtig sich anzupassen, nicht aufzufallen und dennoch wurde diskriminiert.

Diese Erfahrungen sollten mir erspart bleiben. Ich habe das R nicht gerollt und auch mein Vorname ist nicht typisch russisch. Mein Migrationshintergrund bleibt unbekannt.

Mama wollte mit dem russischen nicht viel zu tun haben, hat sich lange nicht getraut die Sprache in der Öffentlichkeit zu sprechen und versucht das Deutsche anzunehmen. Erst mit den Flüchtlingen aus der Ukraine wurde ihre Bilingualität von ihren deutschen Kolleginnen und Kollegen geschätzt. Trotz der Anpassung bleibt das Leben dort nicht unvergessen: „Russland oder die ehemalige Sowjetunion ist zwar keine Heimat für mich, aber ein Land, in dem ich geboren wurde, zunächst verwurzelt war und meine Kindheit verbracht habe“. Im Vergleich dazu bin ich in deutschen Verhältnissen, mit deutschen Freunden aufgewachsen, die den Geruch von Pelmeni eklig fanden, als ich sie einmal in die Schule mitgebracht habe. Das Russische ist ein Teil meines Lebens, der Grund für mein politisches Interesse an Mittel- und Osteuropa und die Motivation die Sprache noch zu lernen. Einerseits ist es schwer die Verbundenheit mit einem Land, dessen Politik so verbrecherisch ist, nachzuvollziehen, andererseits ist das Land Teil der persönlichen Geschichte – mal mehr, so wie bei meiner Reise mit Mama vor 19 Jahren nach Russland, und mal weniger.

Diese Verbundenheit wird von vielen Russlanddeutschen in Deutschland nicht nur mit dem Essen, sondern auch mithilfe der Medien bewahrt. Odnoklassniki war für Mama eine lange Zeit wie das russische Facebook, viele Russlanddeutsche haben eine zweite Satellitenschüssel auf dem Dach oder können die russischen Sender anders empfangen und am Bahnhof von Kassel-Wilhelmshöhe, wurde vom Zeitungsständer mit den internationalen Zeitungen immer die Argumenty i Fakty  mitgenommen. Das ist jetzt anders.

Mama ist schon lange nicht mehr auf Odnoklassniki aktiv, zu Hause läuft kein russisches Fernsehen mehr und die Zeitung wird nicht mehr verkauft. Meinen Eltern ist bewusst, dass die russische Propaganda viele Lügen verbreitet. Sogar die Facebook-Gruppe „Russko-jasytschnyje mamotschki Germanii“ wurde mit Beginn des Krieges um die Ukraine umbenannt in „Mamy Germanii“

Einigen Russlanddeutschen, die sich mit dem Land, auch politisch, noch immer eng verbunden fühlen ist das nicht bewusst. Untermalt wird das mit einer Umfrage des russischen Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum. Laut ihr sehen 64% der Russen das Fernsehen nach wie vor als die wichtigste Informationsquelle. Eine Quelle, die bereits mit der Etablierung von Putins Machtverikale in den 2000ern als Sprachrohr des Kremls gesehen werden konnte. Das Vertrauen in das Medium lässt nicht nach, nur weil das Programm woanders konsumiert wird. Die staatliche Einflussnahme auf das Volk ist Jahrzehnte alt und zeigt sich in der Darstellung der USA als Staatsfeind, der Beschönigung der russischen Position in der Weltpolitik und in den Geschichtsbüchern in russischen Klassenzimmern. Viele Generationen haben schon in der Sowjetunion ein falsches Bild von der russischen und ukrainischen Geschichte erklärt bekommen. Russki Mir zu dt. „Russische Welt“, ist hier das Stichwort einer Ideologie. Mit ihr wird von Präsident Putin u.a. der Einfluss Russlands auf die postsowjetischen Länder legitimiert. Aufgrund von kulturellen und sozialen Verbindungen, sowie einer gemeinsamen ostslawischen Identität ausgehend von dem Gründungsmythos Kiewer Rus sprach Putin zu Beginn des Krieges von einer „Entmilitarisierung“ und „Entnazifizierung“ im Sinne des „Brudervolks“, womit die Ukrainerinnen und Ukrainer gemeint sind. Dass diese Bestrebungen nur von der russischen Seite ausgehen, ist den Konsumierenden der russischen Propaganda nicht bewusst. Anders wüssten sie, dass zwischen 2002 und 2012 noch ca. 60% des ukrainischen Volkes angegeben haben eine Union von Russland und der Ukraine zu befürworten und nach der Verweigerung vom ehemaligen ukrainischen Präsidenten Janukowitsch das Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterschreiben waren es nur noch 20-25%.

 

Auch meine Eltern sind in der Sowjetunion zur Schule gegangen, Oma und Opa waren Lehrer. Ohne eigenes Interesse und die Motivation zur Recherche in nicht-russischen Quellen bleibt verfälschtes Wissen weiterhin bestehen.

Keiner von uns mag es sich belehren zu lassen und besonders nicht, wenn die vermeintlichen Fakten jahrelang Teil unseres Wissens waren. Verständnis, ein ruhiger Umgang miteinander und einfach nachzuvollziehende Argumente können zu Gesprächen führen, die dabei helfen können, die Emotionen, die mit einem Krieg zusammenhängen, dessen Aggressor das ehemalige Heimatland ist, zu verarbeiten.

Manchmal ist auch diese Herangehensweise nicht genug.

Viele Familien haben Angst sich aufgrund von unterschiedlichen politischen Ansichten zu zerstreiten. Politisches wird daher vermieden und verboten. Nur die Fragen in der WhatsApp-Gruppe, wie es Onkel Heinrichs Enkel geht, der im Dezember eingezogen worden ist, wie es der Cousine geht, die vor einem Jahr mit ihren Kindern nach Deutschland geflüchtet ist und Wowa, der morgen wieder in die Ukraine fährt, bleiben gleich.

War Life Balance

War Life Balance

War Life Balance ist das Produkt einer dreimonatigen Reise in die Ukraine im Sommer 2023 und ist der Versuch einer Dokumentation des Weiterlebens in einem Land im Kriegszustand, der Widerstand des normalen Lebens inmitten permanent über allem schwebender Gefahr der Auslöschung. Im Rahmen der Reise entstanden zahlreiche Photos, die die Veränderungen dokumentieren, die Stimmung einfangen, eine Ebene der Normalität vermitteln, unter der sich Abgründe auftun, welche man erst entdeckt, wenn man innehält und den Blick darauf richtet. Darüber hinaus wurden Interviews mit ukrainischen Binnenflüchtlingen durchgeführt, über ihre Erfahrungen und Entscheidungen in russischer Okkupation gesprochen und ihnen Raum gegeben, ihre Perspektive zu präsentieren, über ihre Biographien, kulturelle Veränderungen und Traumata zu reflektieren, sich selbst als eine Erzählform zu erschaffen.

 

Diese Präsentation stellt einen Teaser für ein geplantes gleichnamiges Buch dar, in welchem sich die Bilder und die Erzählungen ineinander verweben, um gemeinsam ein Narrativ des Weiterlebens „zum Trotz“ herzustellen. Die subtilen Veränderungen des Alltäglichen auf der visuellen Ebene balancieren dabei über dem Abgrund der gelebten Erfahrung, der individuellen Verluste und der kollektiven Identitätsbrüche seit der ersten russischen Invasion 2014 und deren Eskalation in Februar 2022.

 

In diesem Teaser stelle ich eine erste Auswahl von Photos aus Kyiw, Lwiw und Odessa vor und führe Ausschnitte aus einem Interview vor, welches ich mit im Juni 2023 mit dem Ehepaar Majorow aus dem okkupierten Melitopol durchgeführt habe, die nach der Invasion 2022 aus der Okkupation entkommen sind, um ein neues Leben in Lwiw anzufangen. Dazwischen finden sich Einschübe aus Photonarrativen wider, die ein rhythmisches Verhältnis zwischen den Erzählungen des Überlebens und des Weiterlebens im normalen Alltag des Krieges erzeugen sollen. Ich werde dieses Interview in Monologform wiedergeben, da das Interview in einer offenen Gesprächsform durchgeführt wurde, in der eine gemeinsame Gedankenproduktion erfolgte, wo die Gedanken des Anderen bestärkt, ergänzt, weitergeführt wurden. Es geht darum, die gesprochene Rede möglichst original- und klanggetreu einzufangen und auch die Ansichten von Menschen im Krieg möglichst ungefiltert und unverfälscht wiederzugeben, ohne sie einer Bewertung aus einer privilegierten Lage des sicheren Europas heraus zu unterziehen.

 

Neben dem geplanten Buch soll parallel ein erweiterbares Multimedia-Archiv entstehen, zudem sollen Anschlussmöglichkeiten zu Photoausstellungen sowie Theater- bzw Lectureperformances hergestellt werden. Das Projekt soll langfristig in mehreren Sprachen erscheinen und zu weiteren Kooperationen mit ukrainischen Künstlern, Aktivisten sowie ukrainischen Institutionen führen.

 

Ein besonderer Dank gilt Duško Jelen, der als Art Director einen enormen Anteil zur Herstellung der Photostreckennarrative beitrug, sowie Daria Smetanko für ihre wertvolle Hilfe bei der Organisation der Interviews vor Ort.

Interview 1: Viktor Majorow (geb. 1994), Tatjana Majorowa (geb. 1997) – Melitopol (Lwiw, Juni 2023)

Viktor Majorow und Tatjana Majorowa, Melitopol, seit 2 Jahren offiziell eine Familie, Binnenflüchtlinge, internally displaced persons heißt es offiziell, so zynisch wie es klingt.

Wir leben jetzt in Lwiw, wir haben 2 Monate in Okkupation verbracht. Tanja macht PR-Kommunikation, ich bin im Stadtrat von Melitopol für Jugendliche verantwortlich. Ich führe meine Tätigkeit online und offline fort, wir haben hier ein Offline-Zentrum für Hilfe gegründet, eingerichtet mit dem Namen „Same Tut“, dem Slogan von Melitopol „genau hier, gerade hier“- genau hier kann man lernen, gerade hier kann man sich treffen, so ist das gemeint. Wir haben hier offiziell 1000 Leute aus Melitopol, die in der Lvivska Oblast gemeldet sind.

Melitopol ist eine Kleinstadt, jeder kennt jeden. 150000 Leute, 100000 Feste und 50000 Migranten – 20000 fahren zum Arbeiten nach Europa, 20000 rücken aus den umliegenden Dörfern nach, so läuft es die ganze Zeit. Es war eine tolle Stadt – grün, gemütlich, schön, gute Logistik, du bist in fünf Minuten mit dem Auto überall, hattest alles was du brauchst in greifbarer Nähe, alle guten Geschäfte. Das Meer ist nicht weit weg, 30 Minuten. Darum kenne ich Leute aus Zaporizhja, die nach Melitopol gezogen sind, nachdem sie Kinder zur Welt gebracht haben. Bei denen war die Ökologie nicht so gut und bei uns war es sauber.

Man nennt Melitopol den Weg zur Krim, das heißt, alle russischen Panzer aus der Krim gingen über Melitopol. Es gab Tage und Nächte, in denen wir gespürt haben, wie die Erde bebt, obwohl wir nicht nah an der Straße lebten, sondern am Stadtrand. Es gab einfach riesige Mengen an Technik. Das Traurige ist, wir hatten richtig gute Straßen und nachdem sie da durchgefahren sind, waren sie komplett zerstört.

Nach offiziellen Zahlen haben über 50000 Leute Melitopol verlassen. Und es gibt einen Prozentsatz von Leuten, die zurückgekommen sind – sie kommen z.B nach Deutschland, sie kriegen 600 Euro Sozialhilfe, sie realisieren, dass es für sie nicht komfortabel sein wird und sie entscheiden sich für ein Leben in ihrer eigenen Wohnung. Die Wohnung wird ihnen sonst einfach weggenommen, der Gauleiter (im Original deutsch – Anm.) schickt seine Leute vorbei, die stellen fest, dass die Wohnung unbewohnt ist und dann wird man enteignet.

Wir haben noch Leute dort, mit denen wir im Kontakt stehen – Verwandte, Freunde, Leute, mit denen wir gearbeitet haben und weiterarbeiten und die auf die Rückkehr der Ukraine warten. Wir bekommen Informationen von ihnen, sie geben auch konkrete Informationen an die ukrainische Seite weiter, auf denen basierend die ukrainische Armee ihre Aktionen planen kann. Das gibt es seit den ersten Tagen – Chatbots etc. Da muss man aber sehr umsichtig vorgehen. Sie jagen und suchen nach Verrätern und wir haben viele Partisanen. Sie haben letztens einen Bekannten von uns erwischt, bestimmt über Überwachungskameras, die sie jetzt überall aufstellen, selbst in Dörfern. Es gab Sabotageakte an der Eisenbahn, dann haben sie Kameras aufgestellt und jetzt geht es nicht mehr so einfach.

Wir sind stolze Leute. Warum sind die Leute in Melitopol beim Einmarsch der Russen auf ihre Panzer losgegangen? Nicht weil sie keine Angst hatten, sondern weil jemand ungebeten in ihr Territorium eingedrungen ist, das macht man nicht. Wer hat euch das erlaubt? Wer hat euch eingeladen? Warum seid ihr hier? Man hat sie angeschrien: „Jungs, geht nach Hause!“ Und sie haben wirklich gedacht, dass man sie mit Blumen erwarten wird. Das ist keine Erfindung, unsere Leute sind frech, sie gingen direkt zu ihnen und haben sie das gefragt. Und diese Jungs waren verwundert und haben aufrichtig gesagt: „Wisst ihr nicht, dass wir hier sind um euch zu retten? Mit uns wird es viel besser.“ Das ist wie Missbrauch in einer Familie: „Ich schlage dich, aber ich liebe dich trotzdem“. Ach, du willst nicht mit uns sein, du willst nach Europa? Nimm das!

Es gab früher diese regionalen Stereotypen: „Da sind die Leute pro-westlich, da sind sie pro-russisch“. Aber nicht bei den jungen Leuten, die gingen entspannt damit um, mehr bei den Leuten, die das noch aus der Sowjetunion übernommen haben. Und der ganze Westen der Ukraine war immer bei uns im Urlaub. Die Züge Kowel – Lwiw – Simferopol, also Richtung Krim, fuhren über uns, es gab nie Probleme. Meine Mutter ist in der Lwiwska Oblast geboren, mein Vater ist „Russe“, also mit Wurzeln dort. Sie sind sich in der Zaporizhska Oblast begegnet, es spricht dafür, wie gemischt es alles immer war.

Auf den Demonstration waren die Leute auf Adrenalin, sie sprangen unter Räder, sie wussten, dass man sie erschießen konnte. Es war uns allen wichtig, zu zeigen, dass Melitopol zur Ukraine steht. Wir haben über Stereotypen gesprochen – wenn man nach Lwiw kommt, dann sagen sie: „Ah, ihr seid dort alle Separatisten“. Ihre Aggression ist verständlich, da viele Leute aus Lwiw den Osten verteidigen. Seit der Anti-Terror-Operation 2014 hat man den Mythos in die Welt gesetzt, daß nur der Westen den Osten verteidigt, was nicht stimmt, es gibt dort auch sehr viele von unseren Leuten, die sterben. Das hätte man in den Medien mehr beleuchten sollen. Das hat man damals medial verpasst. Man hätte weniger über Autounfälle schreiben können, sondern Geschichten über unsere Helden – wer ist gestorben, Biographien dieser Menschen, wir müssen mehr darüber sprechen. Und wir haben so eine Ist-doch-egal-Haltung, wir hatten z.B ein Gesetz über Feuerwerksverbot. Das hat vielleicht ein Jahr gehalten und dann haben die Leute in Melitopol alle mit Feuerwerken rumgeböllert. Und jetzt lese ich von einer aus Melitopol in Tschechien: „Hier ist ein Feiertag, es gab ein Feuerwerk, ich lag auf dem Boden – aus Reflex“. Jetzt verstehen wir es, aber 2014 haben wir es nicht verstanden. Es war schon wichtig, diese Situation gemeinsam durchzustehen, das hat uns als Nation zusammengeschweißt. Jetzt sagen wir, daß wir geeint sind, daß es keine Stereotypen mehr gibt. Aber es gab sie auch nie. Seit es Krieg gibt, ist jede Politik in den Hintergrund gerückt. Früher war die Politik an erster Stelle. Wir sind in Lwiw und sagen: „Hey, wir sprechen leider schlecht Ukrainisch“. Und sie antworten „Kein Problem, lernt es in aller Ruhe, wenn ihr lernen wollt“. Und wir sind so: „Oh, es ist wirklich so unproblematisch?“

Damals hat keiner richtig verstanden, woher der Wind wehte, wenn es um diese Spaltung ging. Heute verstehen wir es. Als die Orangene Revolution 2004 war, waren wir noch Schüler und wir haben nicht verstanden, was vor sich ging, aber unsere Eltern hatten auch nur Chaos im Kopf und haben es auch nicht verstanden, ihre Eltern haben denen ja auch nichts richtig erklärt. Damals ging es aber medial so richtig los mit der Aufheizung den regionalen Differenzen. Mein Vater war Polizist, er war auf dem Maidan 2004, er hat mir dann einen Schal von Dynamo Kyiw mitgebracht, dabei war ich Fan von Dnipro, er hat mir gar nicht erzählt, was da los war. Der Schal liegt aber immer noch irgendwo rum.

Es begann schon 2006, als Juschtschenko und Janukowitsch die Politik der Orangenen Revolution und die Politik der Spaltung angefangen haben. Stereotypen über Regionen gibt es natürlich immer. Diese Narrative der regionalen Unterschiede wurden aber gezielt künstlich aufgebläht, damit etwa Juschtschenenko mit seiner pro-ukrainischen Position nicht in diese Regionen reinkommt, damit ihn dort keiner wählt. Man hat den Leuten gesagt, dass ihnen Rechte oder Territorien weggenommen werden. Aber wenn ich z.B nach Lwiw kam, hat mir niemand auch nur ein kritisches Wort gesagt, wenn ich Russisch gesprochen habe, ich bin nie ins Ukrainische gewechselt. Alle Leute waren tolerant, haben dich maximal gefragt, wo du herkommst. Es kamen viele Belarusen, wir haben ja viel am Meer gearbeitet und unser Hauptkontingent an Touristen waren ja die Russen. Von denen hat man immer eine gewisse Verächtlichkeit gespürt: „Wir kommen mit Geld, wir kommen aus Moskau und ihr seid hier alle Bauern“. Aber es hängt natürlich alles vom einzelnen Menschen ab. Ich bin ein sehr aggressiver Mensch, ich kann für meine Grenzen jedem den Hintern aufreißen. Ich sage ihnen sofort meine Meinung ins Gesicht, hatte häufig Skandale mit Russen. So eine junge Dame hat mal ihre Brieftasche aufgemacht und all ihre Packungen von Hriwnas vorgeführt und meinte: „Ich kann hier alles kaufen“. Ich meinte nur zu ihr „Bitte, bitte, kaufen Sie alles“ und hab ihr ihren Platz gezeigt. Das war der Unterschied zwischen Belarusen und ihnen, die Belarusen waren immer sehr galant: „Guten Tag, danke, entschuldigen Sie, bitte“ und diese traten so auf… Darum kann ich nicht sagen, dass wir sie jemals geliebt haben. Aber unsere Region handelt mit Tomaten, Kirschen, vielen Produkten aus der Landwirtschaft und Russland war ein großer Absatzmarkt für uns. Um Tomaten nach Polen zu bringen, brauchtest du zig Zertifikate und Dokumente und musstest noch hunderte Kilometer fahren. Und die russische Grenze war 150-200 Kilometer entfernt. Wohin fährst du deine Tomaten, natürlich nach Russland. Außerdem ist Russland so dermaßen korrumpiert, dass du nirgendwo Dokumente brauchtest, du blätterst ein bisschen Geld ab und dann fährst du mit deinen Tomaten, wohin du willst. Aber als uns 2014 Russland versperrt wurde, hat sich das ganze Business Richtung Europa orientiert und ist richtig aufgeblüht. Unser Land ist von der Mentalität wie ein Student, wir prokrastinieren alles bis zum letzten Moment: morgen ist die Prüfung und wir fangen heute mit dem Lernen an.

Alle Sprachkonflikte, die es heute hier gibt, die passieren auch nur aus einfachen emotionalen Gründen. Wir reden hier auf Russisch und eine Frau, die an uns vorbeigeht wird davon getriggert, weil ihr Sohn gestern umgebracht wurde und sie in dieser Sprache die Präsenz des Feindes spürt.

Es ist wichtig zu verstehen, warum es mit der Besetzung von Melitopol so einfach ging. Unter uns gab es viele Verräter und es waren auch viele Leute in Machtposition, die sich als Verräter erwiesen haben. Der jetzige Gauleiter der okkupierten Zaporizhska Oblast war früher auch ein Abgeordneter. Er trat auch zu Bürgermeisterwahlen als Vertreter der Partei der Regionen an. Diese Partei hatte dann ja noch eine Abspaltung – Oppositionsplattform – Für das Leben (beide Parteien sind für die Dauer des Kriegsrechts verboten – Anm.). Es geht bei der Unterscheidung darum, wer von denen Russland mehr liebt. Und manche Leute haben sogar für ihn gestimmt.

 

Als die Okkupation losging, haben wir dann plötzlich gemerkt, dass es in jeder Straße, in jedem Bezirk Leute gibt, die fünf, zehn, fünfzehn Jahre unter uns gelebt haben, aber sie sind völlig zombiert durch Rußland und leben geistig dort. Und die haben sofort angefangen, pro-russische Agenda zu verbreiten, vorher hielten sie ihre Füße still und haben nur darauf gewartet. Ich glaube, sie waren schon 2014 so, aber haben sich nicht getraut, etwas zu sagen, weil Melitopol 2014 durchgestanden hat und nicht „Volksrepublik Donetsk“ wurde. Die Gefahr war groß, nur durch unseren Bürgermeister, seine Finanzen und seinen Einsatz dafür, dass Melitopol Ukraine bleibt, konnte es abgewendet worden – ich war damals Journalist und mitten im Geschehen. Ich wusste, daß Claqueure aus Russland und aus Donetsk auf dem Weg zu uns sind. Russische Flaggen sind über Nacht aufgetaucht, das heisst die haben in ihrem Bus voller Leute direkt eine Ladung Fahnen mit angeschleppt. Ich habe vorher in all den Jahren in Melitopol nie eine russische Fahne gesehen, kein einziges Mal. Und ich kannte niemanden von den Leuten. Du bist in einer Kleinstadt, du hast die Hälfte von deinen Leuten zumindest mal irgendwo gesehen. Als es dann den pro-ukrainischen Protest dagegen gab, kannte ich die Hälfte von denen, etwa tausend, das waren die aktivsten Leute in der Stadt. Du siehst sofort, das sind unsere Leute.

 

Die haben schon in den ersten Tagen der Okkupation Leute von der Krim rübergebracht. Aber nicht mal die Einheimischen von dort, sondern Russen, die dorthin umgesiedelt wurden. Man hat sie in einer Schlange für humanitäre Hilfe aufgestellt, damit sie im Fernsehen zeigen können, wie Russland der lokalen Bevölkerung hilft. Sie stehen auf dem Marktplatz und erzählen, wie Russland alles ganz toll macht, aber sie vergessen, daß sie einen russischen Akzent haben. So redet keiner bei uns Russisch – sie haben diesen offensichtlichen russischen „Aaaakzeeent“: Das wirkt immer richtig lächerlich: Ich erinnere mich, wie ich vor dem Rausfahren das Auto vollgetankt habe, da steht so ein Opa und tankt und der fragt mich mit so einem klaren russischen „Aaakzeeent“ „Wie geht es dir? Wie fühlst du dich gerade so?“. Sie haben hier ihre Leute aufgestellt, wir nennen sie „Flüsterlinge“, die hier die Lage sondieren sollen. Er hat mein Autokennzeichen gesehen, er hätte es sofort kopieren und teilen können. Ich sag ihm „Ach, alles normal wie immer“, dann sagt er mir: „Weißt du, mir geht es jetzt richtig gut, ich habe mein ganzes Leben auf sie gewartet und ich lebe schon seit zwanzig Jahren hier in Melitopol.“ Und ich verstehe sofort, dass es nicht sein kann. Du lebst in Deutschland, du hast einen deutschen Akzent, du lebst zwei Monate in London, schon hast du einen englischen Akzent. Wir leben erst seit ein paar Monaten hier in Lwiw und haben schon den galizischen Akzent, benutzen neue regionale Wörter – und der sagt mir im reinsten Russisch „Ich lebe seit zwanzig Jahren hier“.

 

Wir waren immer ukrainisch, wir haben nie darüber nachgedacht, bis wir rausfahren mussten und dann angefangen haben, unsere Telefone zu säubern. Wenn sie einen Avatar mit einer Ukrainefahne bei jemandem gesehen haben, mit dem du gechattet hast, dann können sie dein Telefon konfiszieren, dich aus dem Auto rausholen, dich nicht rausfahren lassen, alles Mögliche. Dann haben wir erst festgestellt, wie viele ukrainische Flaggen wir überall haben, wie stark wir immer von ukrainischer Symbolik umgeben waren. Wir waren immer Patrioten und haben noch nicht mal darüber nachgedacht. Solche Verräter wurden von außen reingebracht. Und dann gab es natürlich Leute aus der älteren Generation, die dann plötzlich einen Anflug von Jugend gespürt haben – sie vermissen die Sowjetunion. Wenn man sie dann fragt, was an der Sowjetunion gut war, können sie natürlich nichts sagen, außer dass sie jung waren, dass sie getrunken und Party gemacht haben und ein Leben hatten, dass alle miteinander befreundet waren und sich gegenseitig besucht haben. Als könntest du jetzt nicht Leute besuchen, Sex haben, rauchen, trinken, dir Tätowierungen stechen lassen und das Leben genießen, wer hindert dich denn daran?

 

Wenn ich solche Leute frage: „Warum bist du für Russland?“ dann kriege ich zu hören „Ich bin nicht für Russland, ich bin für Freundschaft“. Die ganze Argumentation ist komplett blaß, absolut unklar, sie können es sich selbst nicht erklären. Wir nennen sie Pristosuwancy, „Anpasser“: Warum soll man denken? „Ich bin ein kleiner Mensch, ich kann nichts entscheiden.“ Das hat man denen in der Sowjetunion so eingeimpft, das war bequem und man konnte alle Verantwortung abwerfen. Deshalb gibt es viele solcher Leute, vor allem Ältere – die jungen Leute haben sich insgesamt von ihrer besten Seite gezeigt. Natürlich gibt es auch einige junge Anpasser – sie lieben es, Geschäfte mit Russland zu machen. Es gibt keine Konkurrenz: Ich fahre mit meiner proukrainischen Position raus und du übernimmst mein Geschäft komplett mit allem Equipment ausgerüstet, du musst kein Geld investieren. Du schickst einfach Infos an Bots von Kadyrow-Leuten und verdienst damit dein Geld, und so machen es viele. Bei den meisten wirst du es noch nicht mal sicher erfahren. Als wir rausgefahren sind, habe ich angefangen, mein Telefon zu säubern – Ukraineflaggen, Symbolik. Ich kenne die ganze Szene, ich hab die Nummer des Bürgermeisters. Und da hab ich festgestellt – ach, ich hab ja auch die Nummer des Gauleiters. Ich dachte mir, lass sie mal drin für alle Fälle. Das ist so lustig, eine Kleinstadt, jeder kennt jeden.

Ich glaube nicht, dass bei euch in Deutschland unsere Anti-Terror-Operation die ganzen acht Jahre lang seit 2014 in den Medien stattfand. Vielleicht die ersten 1-2 Jahre und dann hat man es vergessen, ihr habt ja eure eigenen Probleme. Darum hat der Krieg auch in diesem großen Maßstab angefangen. Sie haben in den ersten acht Jahren gesehen, dass alles OK läuft, sie haben sich acht Jahre lang darauf vorbereitet. Die Eskalation war im Nachhinein die einzig logische Konsequenz. Wir waren uns bis zum Schluß nicht sicher, dass es passieren wird, obwohl es schon lange brodelte. Für uns stehen Gäste an erster Stelle, wir glauben nie daran, dass irgendwer in böser Absicht zu uns kommt, weil wir selbst nicht so sind – wir verstehen es nicht, es ist außerhalb unseres Denkrahmens. Ich erinnere mich aber an den 16. Februar, als mein Vater zu mir kam und sagte: „Pack mal deine Dokumente zusammen, für den Fall der Fälle.“ Dann habe ich zum ersten Mal verstanden, dass wirklich etwas vor sich geht. Es brodelte. Alle machten Witze, daß es am 22.2.22 losgehen wird, weil es so ein schönes Datum ist und sie dort solche Numerologie mögen. Aber es ist interessant, wie wir nicht reagiert haben: „Wenn es losgeht, dann geht es halt los“. Wir waren null bereit. 24.2., früh morgens: Der Tank im Auto ist leer, wir haben kein Bargeld und wir sitzen da: „Verdammt, es geht los“. Das einzige, was ich bereit hatte, war Brauchwasser.

 

Jetzt verstehe ich, ich hätte vorher den Rucksack packen sollen, ich hätte mich besser vorbereiten müssen. Jetzt habe ich immer einen gepackten Rucksack, ich glaube, das bleibt jetzt für den Rest des Lebens so. Zu Hause muss man jetzt immer Lebensmittel haben. In der Okkupation, wo wir plötzlich von allem abgeschnitten wurden, haben wir nur noch von dem gelebt, was wir übrig hatten – irgendwelches Essen, irgendwelche Grützen, Feuchttücher, Klopapier, den ganzen Rest, den wir noch hatten. Ich hatte früher nie die Gewohnheit, so sparsam und hortend zu sein: Wenn ich etwas nicht hatte, habe ich es halt nachgekauft. Aber jetzt habe ich immer eine Reserve für alles, was man im Haus gebrauchen könnte. Jetzt verstehen wir unsere Großmütter und Großväter, ihre Geschichten waren für uns immer so weit weg und jetzt nehmen wir sie plötzlich ganz anders wahr.

 

Es ist wichtig, den Feind nicht zu unterschätzen. Wir sind mutig geworden, nachdem wir Kyiw verteidigen konnten. Bis dahin hatten alle die Hosen voll. Ich erinnere mich an den ersten Morgen, wir mussten die Kinder abholen und evakuieren. Ich habe die Kinder zu Hause gelassen und bin zur Arbeit gefahren. Wir haben ein Schutzraum für alle errichtet, die beschossen wurden, haben Klappliegen für ankommende Kinder und Erwachsene auf der Bühne vor dem Kulturpalast aufgestellt. Währenddessen lese ich Nachrichten, meine Eltern, die in einem Dorf vor Melitopol leben, haben mich angerufen und haben gesagt „Wir haben schon drei Kilometer Technik gezählt“. Und es war mehr – von Genitschesk zu meinem Heimatort sind es 37 Kilometer – ein Streifen war nur Technik, Panzer, Raketenwerfer etc. und daneben gingen Soldaten zu Fuß. So massiv sind sie hier angerückt. Unsere Leute bei Tschongar konnten es bestätigen, eine Journalistin z.B., die von da berichtet und diese zerfetzen Leichen gesehen hat – 100 Grenzschützer gegen diese Massen, das war unrealistisch. Man hatte das Gefühl: Das ist das Ende. Melitopol wird ganz sicher okkupiert.

 

Am 24ten abends standen die Truppen bereits an der Einfahrt zur Stadt, aber sind nicht reigefahren. Ich mache einen Podcast über Melitopol und hab mit einem Azow-Mitglied gesprochen, der in der Territorialverteidigung ist. Er sagte, dass das erste Gefecht vor der Stadt stattfand . Sie sind mit einem Zivilfahrzeug rausgefahren, haben die Orks (eine gängige Bezeichnung für russische Streitkräfte seit den Verbrechen in Butscha – Anm.) mit einem Granatenwerfer beschossen und sind schnell wieder abgehauen. Da müssen die verstanden haben, dass irgendwas nicht stimmt. Die Gauleiter haben denen gesagt, dass alles OK ist, dass alle raus sind und plötzlich kommen Leute an und beschießen sie. Da sind sie auf Nummer sicher gegangen und haben vor der Stadt auf weitere Befehle gewartet. Ihr Primärziel war Mariupol und wir liegen auf der Straße dorthin. Dort war Azow, dort gab es gute Verteidigungsanlagen, die man zerstören musste, es war ihr Ziel, maximal schnell hinzukommen.

 

Es ist sehr beängstigend, Militärtechnik zu sehen. Ich erinnere mich, wie wir am Tag vor der Ausreise, nachdem wir alle Sachen in der Wohnung gepackt haben, an dem vorbeigefahren sind, was man Solnzepyok ( Schweres Flammenwerfersystem „Sonnenglut“ – Anm.) nennt – das kann man googlen, es ist wie Grad (Mehrfachraketenwerfersystem „Hagel“ – Anm.), aber eine Maschine unwahrscheinlicher Ausmaße. Und es wird mir klar, dass dieses Ding aus der Stadt rausfährt, um unsere Jungs zu töten. Es ist so entsetzlich, direkt daneben zu sein. Wir sind inmitten einer Panzerkolonne, auf einem Stück ohne Straße, in einem Sturm aus aufgewirbelten Staub, so dreckig war unser Auto noch nie. Und es ist schrecklich, denn du weißt nicht, was in den Köpfen dieser Leute vorgeht.

Die ersten Tage waren wir im Keller. Von Tag 1 an wohnten wir nicht mehr zu Hause, weil es gefährlich war. Wir waren in einem Eigenheim mit Keller, bei unseren entfernten Verwandten, zusammen mit mehreren Familien. Jetzt verstehe ich, dass der Keller mehr eine Selbstberuhigung war, er wäre unser Grab geworden, wenn wirklich was passiert wäre und wir verschüttet gewesen wären. Aber wir haben ein Auto über den Eingang gestellt – falls das Dach einstürzt, fällt es auf das Auto und dann können wir rauskriechen – wir sind wirklich in so einen Überlebensmodus übergegangen. Melitopol wurde vom ersten Tag an gebombt, es gab Treffer bei militärischen Objekten, auf dem Flughafen. Wir haben das alles gehört, der erste Morgen begann direkt damit. Wenn du im Keller sitzt, weißt du nicht, wann etwas angeflogen kommt und wann es losgeht. Jetzt weiß man, wenn man hier einen Luftalarm hat, wo man in einen Schutzbunker gehen kann, alles ist organisiert. Dort gab es das nicht, da hast du es erst nach dem Treffer erfahren und das konnte in jedem Moment sein. Du hörst es und du rennst, du lässt die Kinder fallen, vergisst alles. Wir hatten Kinder bei uns, der Kleine war ein Erstklässler, ein sehr aktiver Junge. In der zweiten Woche waren wir unter Beschuss, alles bebte, es fiel Staub auf unsere Köpfe von der Decke. Und dann sitzt er da mit Augen so groß wie 5-Kopeken-Münzen und ist komplett still. Er steht unter Schock. Unsere Kinder sind so erwachsen geworden und sie sind unrechtmäßig erwachsen geworden.

 

Wir sind nur hin und her gelaufen. es gab kein Mobilfunknetz. Wir haben uns im Keller eingerichtet. In der Ukraine sind die Keller ein Ort, wo man konserviertes Essen wie eingelegtes Gemüse auf Regalen aufbewahrt. Wir haben dort alles mit Styropor ausgelegt, haben dort Decken, Kissen und Matratzen hingelegt, Wasser und irgendwelche Lebensmittel runtergenommen. Wir haben die Konservengläser alle in die Ecken gestellt und haben jede Nacht auf den Regalen geschlafen. In einer Nacht schien es ruhig zu sein und wir haben uns getraut, nach oben zu kommen und im Haus zu schlafen. Aber wir hatten so riesige Angst, im Bett zu schlafen, wir haben uns direkt auf dem Boden im Eingangsraum hingelegt. Es gibt „die Regel der zwei Wände“, du sollst durch zwei Wände geschützt sein, wenn es einschlägt. Wir lagen alle da zwischen den Wänden mit vollgepackten Taschen, damit wir wieder schnell runterrennen können, mehrere Familien.

 

Als wir in der Okkupation waren, haben wir, wenn wir Verbindung zur Außenwelt hatten, gesehen, was in Kyiw passiert, dass die Truppen in Butscha reinkommen. Später kamen dann die ganzen Verbrechen aus Butscha ans Licht. Alle haben erfahren was da los war. Wir hatten riesige Angst, nach Draußen zu gehen. Wir waren vielleicht ein paar Mal in unserer Mietswohnung.

 

Wir sind bewusste Bürger, ich habe in einem Jugendzentrum gearbeitet, wo man Ukrainisch gesprochen hat. Mein Team und ich, wir haben viele patriotische Veranstaltungen in der Stadt durchgeführt, Festivals, den Wyschiwanka-Tag (Hemden mit regional unterschiedlichen traditionellen ukrainischen Stickmustern, die als nationales Kulturgut gelten – Anm.), es war alles auf Video dokumentiert. Es war klar, dass sie irgendwann zu mir kommen werden. Und sie kamen auch zu mir, wir waren nur nicht zu Hause. Das ist ein Zeichen dafür, dass sie gezielt bestimmte Leute gesucht haben.

 

Ich bin ein russischsprachiger Mensch, ich habe mein Leben lang Russisch gesprochen. Jetzt rede ich auf Ukrainisch und wenn ich Russisch höre, spüre ich eine Gefahr. In der Okkupation spürten wir diese Gefahr auch ständig. Für deine Einstellung, für deine Tätigkeit, deine Hilfe kann man jederzeit zu dir kommen, um dich zu holen. Wir waren auf einer Liste. Leute kamen zu mir in meine Mietswohnung. Wir hatten eine Mietswohnung, von der nur sehr wenige Leute wussten. Wir renovierten sie und wohnten woanders. Sie sind mehrfach zu dieser Wohnung gekommen. Meine Nachbarin, eine Oma hat mir davon erzählt. „Da sind ein paar Jungs gekommen“ wie sie es ausdrückte, nicht „Feinde mit Waffen“, sondern „Jungs“ . Sie haben mich gesucht, haben gefragt, wo ich bin.

 

„Ein paar Jungs sind zu dir gekommen“. „Jungs!!!“ Sie wusste einfach nicht, wo ich war, ich hab ihr gesagt, dass ich einen Job am Meer habe. Das hat sie einfach geglaubt und gut war’s. Du musst verstehen, du weißt einfach nicht, wer Freund und wer Feind ist. Man muss so vorsichtig sein. Alle Filme werden Realität. Du lebst in einem Film, du verstehst nicht, was als nächstes passieren wird, jede deiner Bewegungen, jedes Wort kann dir zum Verhängnis werden und du weißt nicht, wann es passieren kann. Ich sage Leuten in der Okkupation immer, sie sollen nicht mit unbekannten Leuten reden, selbst mit Bekannten nicht – immer nur über weit entfernte, unverfängliche Themen. Selbst wenn du mich nicht verrätst – jemand kann gerade hinterm Zaun vorbeigehen, einen Gesprächsfetzen hören, sich den Rest dazuerfinden und zurechtdrehen und dann kriegt er 10000 Rubel für jeden, den er verpfeift. Warum soll man arbeiten, wenn es auch so geht? Und du wirst nie das Gegenteil beweisen, es interessiert dort niemanden. Ich hab einen Bekannten, der gerade wegen Extremismus angeklagt wird, und das ist so einer dieser sanften Teddybären, sehr langsam – der ist alles, nur kein Terrorist. Aber sie müssen halt ihre Pläne erfüllen und Zahlen abarbeiten – und der hat sich geweigert, in einer russischen Schule zu arbeiten, da haben sie ihn abholt und gesagt, dann bist du Terrorist. Zumindest weiß man, wo er ist. Er hat einen Anwalt bekommen, einen Einheimischen, der die Seite gewechselt hat, der hat immerhin seinen Verwandten gesagt, dass er lebt.

 

Orks führen keine Statistiken darüber, wen sie da überhaupt haben, sie sehen ja nicht mal die Gesichter, da wird einfach jemand mit einem Sack auf dem Kopf reingebracht und keiner kümmert sich weiter drum. Das macht einem richtig Angst.

 

Ich wusste, dass es passieren wird. Das war das Donbass-Szenario, das sich vollständig wiederholt hat. Wir wussten, was passieren wird, wir wussten, daß es Listen geben wird, dass wir für unsere Position, für die Proteste bezahlen müssen. Ich habe einen Freund, der seit einem Jahr in Haft ist. Man hat ihm Extremismus angehängt, Drogen, Vorbereitung eines Terroranschlags, alles Mögliche. Es ist unmöglich, an ihn ranzukommen, er ist ein Zivilist und Zivilisten werden gerade nicht ausgetauscht, die Priorität liegt bei Militärleuten. Ich war an dem Tag da, als unser Bürgermeister abgeholt wurde. Ich war auf der Arbeit, wir arbeiteten alle im selben Gebäude, da kamen russische Militärangehörige rein. Wir waren gerade dabei, Dokumente zu vernichten – Kopien von Pässen und Ähnliches. Ich bin gerade mit Dokumenten zum Auto rausgegangen, weil ich sie dann später verbrennen sollte. Und plötzlich kommt russisches Militär rein, mit Gewehren. Ich bin sofort zum Auto gerannt und hab alles liegengelassen – meinen Schreibblock, mein Arbeitsnotebook. Die russischen Soldaten haben in der Zeit, wo ich alles vernichtet habe, das Gebäude besetzt und haben niemanden mehr reingelassen. Sie haben auch unseren Bürgermeister gefangen genommen, er war dann recht lange in Gefangenschaft.

 

Vom ersten Tag an war ich maximal gefasst. Ich habe verstanden, dass es so sein wird, ich habe Tanja vorher – vergeblich – gebeten, rauszufahren, weil ich wusste, dass es für mich leichter wäre, wenn sie dann nicht in der Nähe ist. Es gab eine Situation, wo ich rausfahren musste, um eine Tür gegen Plünderungen zu befestigen. Ich habe ihr gesagt, dass die Arbeit etwa eine Stunde dauern würde. Es war dann so, dass es zwei Stunden gedauert hat. Als ich zurückkam, stand sie in Tränen aufgelöst an der Tür. Es gab kein Netz und das Haus war etwa hundert Meter vom Hauptquartier der russischen Orks entfernt. Du fährst raus und du realisierst: Du fährst im Prinzip raus zu denen in ihre Orkhöhle, weil du da halt unbedingt was tun musst. Und als ich rausgefahren bin, war mir klar, dass es nicht die Zeit ist, um in Panik zu geraten. Im Gegenteil, ich bin in Stressituationen komplett gefasst. Danach, wenn die Situation vorbei ist, kann es mir aber passieren, dass es über mich kommt: so war es, als wir dann endlich in Lwiw angekommen sind und mir klar wurde, dass wir jetzt im Prinzip sicher sind. Aber kaum sind wir angekommen, kaum sind wir zur Tür rein und dann ist direkt neben uns eine Rakete ins Elektrizitätswerk reingeknallt. Aber hier kommt grob gesagt einmal die Woche was angeflogen, in Kyiw jeden Tag, in der Zaporizhska Oblast 150 mal am Tag. Alle reden von Bachmut, aber um uns herum hat man Huljajpole, Tokmak, um Bachmut herum hast du Awdijiwka, Slowjansk, die werden auch komplett ausgelöscht. Da ist nichts mehr, sie sind jetzt nur noch Asche. Da sind wir zumindest froh, dass unsere Stadt bis jetzt halbwegs heil geblieben ist, es gab nur ein paar Einschläge am Stadtrand. Aber wie die Praxis mit Cherson gezeigt hat, war Cherson auch relativ unbeschadet, solange die russische Armee dort war. Als sie rausgedrängt wurden, haben sie auch damit angefangen, die Stadt auszulöschen.

 

Wenn du schlafen gehst, hast du Angst, daß am Morgen die Russen zu dir kommen. Wir haben schon ein Schema erkannt – es muss entweder in der Nacht passieren oder sehr früh morgens. Und wenn wenn du einschläfst, dann befürchtest du, dass du morgens davon aufwachst, dass sechs oder zehn Leute reinkommen. Ich habe mit meiner Schwester schon mehrere Szenarien durchgesprochen – sie rennt in das nächste Zimmer, wir verstecken uns unter dem Bett… Wir haben zwar kapiert, dass es nicht so ablaufen wird, aber es war für sie mental wichtig, dass wir zumindest den  Anschein eines Plans im Kopf haben. Es ist wichtig, sich zumindest geistig auf ein Szenario vorzubereiten. Es ist klar, daß es nicht so sein wird – wir wissen ja, wie es wirklich abgelaufen ist: Es kommt eine Gruppe von Bewaffneten reingestürmt, sie zielen die Waffe auf dich, du frierst ein, das war’s. Aber ich hatte immer ein Gewehr unter meinem Bett. Das ist eigentlich so lustig, wenn man drüber nachdenkt: ich habe ja nur zwei Kugeln im Lauf und sie kommen zu zehnt. Und ich habe nie ein Gewehr in der Hand gehalten. Was soll mir dieses Gewehr eigentlich bringen? Es bringt mir nur, daß ich schneller umgebracht werde. Wenn jemand vom Militär jemanden mit einer Waffe sieht, dann schießt er auf dich, ist doch klar. Selbst wenn ich es vorher noch schaffe, zwei Leute zu erschießen… Heute sitzt man da, lacht darüber und denkt: warum habe ich das so gemacht? Aber damals hat man nur überlebt, man verarbeitet es mit Lachen, aber es ist eine Geschichte des Überlebens.

Ich erinnere mich an eine sehr emotionale Geschichte am ersten Tag. Ich habe gearbeitet, wir haben einen Schutzraum eingerichtet, zu uns kamen Leute, die sich zur Territorialverteidigung gemeldet haben, wir haben sie eingeschrieben, sie ausgestattet. Wir haben ein Mädchen mit seiner Mutter und Schwester abgeholt, sie lebten nicht weit vom Flughafen entfernt und ihr Haus wurde getroffen, die Fenster sind rausgesprungen. Und wir haben einen Papagei bei uns auf der Arbeit, er ist bei uns direkt am Eingang. Und dann kommt dieses kleine Mädchen komplett verheult die Tür rein. Sie ist vielleicht sechs-sieben Jahre alt, spricht noch nicht sehr gut. Sie geht zu diesem Vogel und fängt an zu lächeln: „Das ist so ein Vogel wie zu Hause“. Die Mutter bricht komplett in Tränen aus, wir stehen bedrückt da und sagen dem Mädchen „Dann spiel doch mit diesem Vogel“. Und dieser Vogel hat dem Mädchen geholfen, mit ihrer Last fertigzuwerden. In dem Moment hatte ich die Erkenntnis: es wird alles oder nichts, entweder wir gewinnen oder wir sterben alle. Es gab kein „Wir können mit Russland leben, irgendwie zueinander finden“.

 

Schau dir mal die ukrainischen Kinder von heute an. Es gibt virale Videos auf Tiktok, wenn die Nationalhymne gespielt wird – die Erwachsenen stehen alle da und singen nicht und die ganzen Kinder grölen sie so laut aus tiefstem Herzen. Und keiner hat es ihnen beigebracht, das haben sie alles selbst gelernt, das ist ja das Lustige. Wir hatten einen Jungen bei uns, einen Erstklässler, der kannte alle ukrainischen Lieder, kannte die Hymne und hat sie in der Okkupation immer gesungen – das hat ihm niemand beigebracht. Die Eltern hatten solche Angst, mit ihm in die Schule oder auf die Straße zu gehen, er könnte „Slava Ukraini!“ rufen oder sonst irgendeine verrückte Aktion starten. Das Kind ist sieben Jahre alt, er hat einen Tiktok-Kanal mit pro-ukrainischem Content. Als wir das erfahren haben, waren wir geschockt, die Russen überprüfen sowas ja. Aber es hat bei ihm innerlich gebrannt, es hat ihn geschmerzt, er wollte es allen zeigen, dass er Ukrainer ist.

 

In den ersten Tagen, als es die ganzen Plünderungen gab, da hat unsere Nationalgarde hier bei Wasyliwka gekämpft, hat die Okkupanten zurückgehalten, während sie gleichzeitig versucht haben, Defensivstellungen zu errichten, um vernünftig Positionskämpfe führen zu können. Es gab leider so viele Tote, wir haben so viele abgebrannte Panzer von uns gesehen. Jedenfalls gab es wegen dieser Kämpfe kein Brot mehr, es gab kein Gas, es gab keine Grundnahrungsmittel wie Milch. Und als das Brot langsam wieder aufgetaucht ist, konntest du es in limitierten Mengen kaufen, ein halbes Laib Brot pro Familie. Als wir das erste Mal frisches, warmes Brot in unsere Hände kriegen konnten und der Junge ein Stück von diesem Brot abgebissen hat – da hatten wir alle Tränen in den Augen, wir haben uns noch nie so über ein Stück Brot gefreut. Er hat reingebissen und hat gesagt: „Mein Gott, dieses Brot ist so lecker“. Diesen Jungen so zu sehen, da hab ich jetzt noch beim Erzählen eine Gänsehaut. Um es zu verstehen: Dieser Junge hat zu Hause alles, er hat alle Gadgets, einen Iphone, er hat einen 3D-Drucker zu Hause stehen! Der Junge ist sieben und er hat zu Hause alles! Und er freut sich über dieses Brot, isst es und weint! Und du verstehst, was wirkliche Werte im Leben sind.

 

Wir sind in unserer Sorglosigkeit und in unserer Toleranz abgesoffen. Es hätte keine Toleranz geben dürfen. Viele Leute denken immer noch, dass es gute Russen gibt und suchen nach ihnen. Aber es kann keinen guten Russen geben, denn jeder gute Russe endet bei der Frage „Bist du für diesen Krieg verantwortlich?“ Er sagt dann immer „Nein, ich habe doch nicht angegriffen“. Aber wenn mein Vater oder meine Mutter irgendwas Schlechtes macht, würde ich mich doch schämen. Als Janukowitsch unser Präsident war, da haben wir uns geschämt. Wir sind auf die Straße demonstrieren gegangen, weil wir uns geschämt haben und wir haben ihn gestürzt. Wenn ihr euch geschämt hättet, dann hättet ihr euch längst versammelt und hättet etwas gemacht. Aber sie schämen sich nicht. Sie sind „kleine Leute“. Und da es für die Krim keine Konsequenzen gab, dachten sie, das geht auch jetzt wieder gut. Wenn sie mit der Krim nicht durchgekommen wären, ohne Krieg, ohne Sanktionen, hätten sie vielleicht irgendwas draus gelernt. Aber der Westen hat es geschluckt. Sie haben den Westen mit billigen Ressourcen gefüttert.

 

Ich erinnere mich an einen Moment, wo ich auf den Markt gegangen bin. Ich musste dem Hauskater unserer Verwandten Futter kaufen. Und ich sehe totalen Kollaps, wir hatten Riesenschlangen für Katzenklos. Deine Welt bricht zusammen, wenn du es gewohnt bist, daß sich deine Stadt entwickelt und du plötzlich Leute siehst, die Sachen auf einem Klappbett verkaufen oder einfach am Straßenrand, auf einem Karton – einfach nur alles, was sie haben, es ist so ein vorzivilisatorischer Zustand. Und dann laufen da diese Okkupanten rum, sie unterscheiden sich durch weiße Armbinden, während man unsere Leute an geld-blauen Armbinden erkennt. Und dann kommt er rein, er hat Augen aus Glas, wir begegnen uns Stirn an Stirn, unsere Blicke treffen sich. Ich bin wie gelähmt vor Angst, ich realisiere nur: man darf keine schnellen Bewegungen machen, man darf nicht rennen, man muss ganz ruhig rausgehen. Ich bin raus, setze mich ins Auto und fühle mich, als hätte man mich mit eiskaltem Wasser übergossen. Er kann dich mitnehmen, irgendwohin bringen, dir irgendwas antun, nur weil ihm einfach so ein Gedanke in den Kopf schießt. Das war genau die Zeit, als Butscha stattfand, mit all den Vergewaltigungen, als all das öffentlich wurde. Du bist ein Mensch und projizierst es auf dich: sie können das gleiche auch dir antun. Das ist ein Leben in permanenter Angst, du weisst, daß dich jemand holen kommen kann, daß ihnen deine Position nicht passt. Nur von diesem Gedanken allein kannst du wahnsinnig werden, dich selbst innerlich auffressen.

 

Und wenn deine Freunde abgeholt werden, und so wie Wlad, der schon ein Jahr lang in Gefangenschaft ist… Sie machen einen Gerichtsprozess mit ihm, sie veröffentlichen Videos mit ihm. Das ist ein anderer Mensch jetzt, das ist nicht mehr sein Gesicht, mit gebrochener Nase… Sie bearbeiten Leute mit Stromschlägen, sie tun ihnen furchtbare Dinge an. Sie können dich einfach abholen, dich auf eine Flasche setzen, dich zwingen, die russische Hymne zu singen. Dich einfach von der Straße holen. Einen Jungen haben sie einfach von der Straße geholt und jetzt stottert er. Einfach weil sie jemanden gebraucht haben, man muss ja irgendwelche Verräter finden. Sie gehen einfach die Straße entlang und fragen eine Oma, die sie treffen: „Wer hat hier gesagt, daß die Ukraine super ist?“. Und die sagt dann: „Da hinten, Walera“

 

Die Gefahr war immer da. Als wir über Blockposten rausgefahren sind und angehalten wurden, war es immer schwierig, dem Feind ins Gesicht zu lächeln. Und man mußte lächeln, denn wenn du irgendwie zeigst, daß irgendwas nicht stimmt, dass du mit etwas unzufrieden bist, irgendeinen Anflug von Hass, dann kann man dich aus dem Auto holen. Wir haben vor dem Rausfahren mehrere Szenarien besprochen, ich habe einen Führerschein, aber ich fahre nie. Viktor sagte zu mir: „Dir muss klar sein, wenn sie mich aus dem Auto holen und abführen, dann musst du mit den Mädchen weiterfahren“ – wir haben andere Leute rausgefahren. Für mich ist es eine schreckliche Geschichte, allein schon dieser Gedanke war unerträglich, dass man ihn mir wegnehmen kann, wenn ihnen irgendwas im Telefon nicht passt, wenn ihnen ein Blick von ihm nicht passt. Wir haben seine Tätowierung übergestochen – diese Tätowierung war eine Wyschiwanka, ein Mikrofon und Weizenähren.

Die Wyschiwanka wurde mit schwarzer Farbe zu einem Schachbrett übergestochen. Der Legende nach liebe ich es jetzt, beim Schachspielen zu reden. Und das hat funktioniert.

 

Beim Rausfahren wird man angehalten, die Telefone werden durchgeguckt, man wird ausgezogen. Worüber hat man gechattet, was hat man für Photos, hat man irgendwo patriotische Symbolik? Und kein Tätowierer war bereit, solche Tattoos zu überstechen, bis auf einen Tattoo Artist. Ich werde seinen Namen nicht nennen, weil es gefährlich ist. Was hat der FSB gemacht? Sie sind zu allen Tätowierern gegangen und ihnen gesagt: „Ihr müsst uns alle melden, die sich bei euch militärische Motive überstechen lassen wollen.“ Und es gab eine große Nachfrage danach, denn viele waren irgendwann in der Armee. Du warst z.B irgendwann vor zwanzig Jahren bei der Flotte und die stechen sich immer selbst irgendwelche Anker und jetzt wollten sie es sich alle überstechen lassen. Ich habe mit größter Mühe überhaupt jemanden gefunden, der sich bereit erklärt hat, so etwas zu machen. So haben wir diese Tätowierung irgendwo in einer verlassenen, zugemüllten Wohnung gemacht. Da war natürlich an sanitäre Bedingungen oder sonstwas in der Richtung überhaupt nicht zu denken… Es war so lustig, wir saßen da und er sagt mir: „Gestern war der FSB bei mir, hat mich zu einem Gespräch gebeten“. Und ich frag ihn: „Ich hoffe doch, du verpfeifst mich nicht?“ Und er: „Natürlich nicht“. Und darum, wenn ihm jemand auf Instagram schreibt, dann sagt er „Ruf mich nur persönlich an“. Er weiß nicht, ob es nicht der FSB ist. Die Leute wollten in so einem Fall keine Kunden annehmen, solche Momente waren immer sehr ernst.

Und das ist meine andere Tätowierung, das ist ein Musikfestival, das wir organisiert haben, das ist furzendes Einhorn. Da steht auf Ukrainisch „nicht unter Leuten furzen“, noch lange vor dem Krieg geschrieben. Die hat mich echt gerettet, als wir an den Blockposten bei den Kadyrow-Leuten waren. Die sind so blöd, nicht im Sinne, dass sie dumme Menschen sind, aber sie leben halt in ihrer eigenen kleinen Welt, nicht im 21ten Jahrhundert. Die haben gerade damit aufgehört, Schafe zu hüten. Und immer wenn ich mich ausgezogen habe, habe ich ihnen immer schnell das hier gezeigt, um sie komplett zu verwirren, damit sie sich das andere Tattoo gar nicht erst angucken – ich zeigte ihnen dann immer nur schnell „und hier ist noch ein Mikro“. Die Tätowierung hat sie komplett auf dem falschen Fuß erwischt, sie haben auf einem Typen wie mir so etwas wie ein furzendes Einhorn nicht erwartet. Und da ist ja auch noch ein Regenbogen, vielleicht hätten sie noch denken können, das Ganze wäre ein Gay-Thema. Glücklicherweise haben sie ja gesehen, dass ich verheiratet bin und haben darum nicht gedacht, dass ich schwul bin – es gab für sie ja immer genug Gründe und Ausreden, Leute mitzunehmen.

 

Der Weg raus war sehr schwierig, über Minenfelder. Du siehst beim Fahren die Minen am Straßenrand und wenn du nur ein bisschen zur Seite fährst, dann war’s das für dich. Wir haben mehrere Versuche unternommen, rauszukommen. Wir haben daran gedacht, mit den humanitären Kolonnen rauszufahren. Es wurden humanitäre Korridore eingerichtet, es kamen Busse, die Leute rausgebracht haben, die raus wollten. Hinter denen haben sich dann Autos eingereiht und sind dann zusammen mit denen rausgefahren. Wir haben eigentlich auch gedacht, dass das der einzige richtige Weg ist, über die Blockposten rauszukommen. Das ist ja an sich auch ein sinnvoller Gedanke, den jeder normale Mensch hat: man hat sich auf humanitäre Korridore geeinigt, man hat es im ersten Fernsehkanal gesagt. Aber die Praxis hat dann gezeigt, dass gerade diese humanitären Kolonnen beschossen wurden. Wir haben am 30.März, meinem Geburtstag, spontan rausgefunden, dass es eine private Kolonne geben wird und dann haben wir gesagt: „OK, wir fahren jetzt raus“.

 

Man muss verstehen: Die Melitopoler haben sich vernetzt, haben eine Viber-Chatgruppe gegründet und haben sich gegenseitig Tipps gegeben, wie man am besten rausfährt. Man hat sich mit fünf, sechs Autos zusammengeschlossen, um gemeinsam rauszufahren. Natürlich wurden diese Kolonnen manchmal gesprengt, manchmal haben die Leute auch Angst bekommen und haben die Anderen stehen lassen. Das waren private Kooperationen, keine offiziellen Kolonnen. Eine offizielle Kolonne kann selbstverständlich nicht mit tausend Bussen ankommen und alle gleichzeitig mitnehmen. Außerdem haben die Leute verstanden, dass es sinnlos wäre, ihre Autos stehenzulassen. Man kann so wesentlich mehr Sachen mitnehmen.

 

Als ich rausgefahren bin, hatte ich mein Auto voll mit Frauen, sie haben mehr Sachen mitgenommen als ich. Ich hatte nur ganz wenig, aber witzigerweise habe ich meinen Anzug mitgenommen, in den ich jetzt nicht mehr reinpasse. Ich war ein Eventmoderator und habe darum ein Mikro und einen Anzug mitgenommen. Und die habe ich nicht einfach nur zum Selbstzweck mitgenommen. Ich kam erstens auf den Gedanken, daß mein Mikro teuer ist und ich es verkaufen kann, wenn ich kein Geld habe. Und zweitens, wenn sie mir bei einer Kontrolle nicht glauben sollten, daß ich ein Moderator bin, dann muß ich in der Lage sein, es ihnen zu beweisen: hier ist mein Mikro, hier ist mein Anzug.

 

Wir haben Zigaretten mitgenommen, um sie zu bestechen. Man hat im Chat geschrieben, daß sie nach Wodka, nach Zigaretten fragen. Wir haben keinen Wodka mitgenommen, weil man Menschen mit Maschinengewehren keinen Wodka geben soll. Manche Leute haben es nicht verstanden, sie wollten einfach nur um jeden Preis rauskommen – sie gaben ihnen Geld, sie gaben ihnen alles, was sie hatten. Ich bin Nichtraucher, bei einem Blockposten hat mich ein Ork nach Zigaretten gefragt und hat dann, bevor ich was sagen konnte gesagt: „Ich sehe es dir an, dass du Nichtraucher bist“. Ich weiß ja, dass ich Zigaretten zum Verteilen habe, aber sagte nur: „Ja, ich bin Nichtraucher“. Dann hat er uns weiterfahren lassen. Wir haben vorher extra viele Zigaretten gekauft, wir hatten danach sogar noch welche übrig.

 

Mit jedem Blockposten steigt das Selbstbewusstsein, aber auch die Angst. Es gibt immer eine Vorahnung, als würde man ein Videospiel durchspielen und mit jedem Blockposten steigt der Schwierigkeitslevel.

 

Mehr aus einer Reihe von Zufällen heraus und weil die Kolonnen irgendwo festgehalten wurden, haben wir uns dagegen entschieden, mit den humanitären Kolonnen rauszufahren. Das hat sich dann später als richtige Entscheidung erwiesen, weil sie beschossen wurden. Viele Privatfahrzeuge wurden auch beschossen. Wir haben gesagt, wir warten noch ein bisschen ab. Wir hatten aus irgendeinem Grund immer noch die Hoffnung, dass unsere Armee uns bald wieder zurückerobert und befreit, dass sie schon ganz in der Nähe sind. Man wollte immer, dass alles einfach wieder ganz schnell normal wie früher wird. Es wurde aber nicht wie früher und wir haben uns ein Zeitfenster gesetzt – wenn da nichts passiert, dann können wir nicht mehr länger hierbleiben. Dank dieses Chats und dieser Gruppe von Menschen, die Anderen geholfen haben, konnten wir einen Plan entwickeln: Es gab Leute, die andere Leute mit Bussen rausgefahren haben. Das waren keine offiziellen Kolonnen, sondern private Initiativen. Du konntest denen bis zehn Uhr abends schreiben, daß du mit einem vollen Auto rausfährst – wenn in deinem Auto noch Platz ist, dann kriegst du noch jemanden vermittelt, um möglichst viele Leute rauszubringen. Dann kriegst du von denen eine Karte. Es ist wichtig: Sie haben uns beim Rausfahren gewarnt, dass man sich nicht darauf verlassen kann, dass man überall auf dem Weg Internet haben wird. Faktisch gab es dann nirgendwo Internet. Wir haben eine Ukrainekarte in Buchform gefunden, haben mit einem Marker eine Route eingezeichnet und sind dann damit gefahren, als wären wir alte Menschen. Natürlich haben wir dann auch den falschen Weg genommen. Wir haben zwar auch eine Offline-Karte runtergeladen, mit der man auch hätte arbeiten können, aber sie hätten dir auch jederzeit dein Telefon abnehmen können und dann ist auf deiner Karte der Deckel drauf und du bist noch nie über diese kleinen Dörfer gefahren. Wir haben ja nicht die Hauptstraße genommen. Von Melitopol bis Zaporizhja, also bis zum nächsten Gebiet, das von der Ukraine kontrolliert wird, sind es normalerweise 120 Kilometer, aber wir sind 220 gefahren. Der normale Weg über Wasyliwka war blockiert, dort fanden ständig Kämpfe statt und der Blockposten wurde häufig geschlossen. Wir sind einen Umweg über Tokmak gefahren, es waren 220 Kilometer und unsere Fahrt dauerte von 7 Uhr morgens bis 7 Uhr abends. Wir hatten über zwanzig russische Blockposten, an jedem von ihnen haben sie uns angehalten und wir mussten warten. Man sollte keine hastigen Bewegungen machen, man durfte kein Telefon in der Hand halten, so wie man es normalerweise macht. Jedes Geräusch könnte irgendwas in ihren Köpfen auslösen und sie könnten dich dann rausholen und von diesem Gedanken überkam dich erst recht ein Grauen. Ich glaube, ich hatte nie in meinem Leben solche Angst, als wir uns morgens vor dem Rausfahren von den Menschen verabschiedet haben, bei denen wir gewohnt haben. (Wir haben sie seitdem nicht gesehen, wir haben erfahren, dass sie auch rausgefahren sind und wissen nicht, ob wir uns jemals wiedersehen.). Du hast dieses Zittern im Inneren, du weißt nicht, was dich erwartet – dein Auto kann explodieren, du kannst auf eine Mine drauffahren, jemand kann auf dein Auto schießen, du kannst mehrere Tage lang unterwegs sein. Sie können dich ganz banal anhalten und dir sagen: „So, du fährst hier nicht weiter“. Es gibt viele von solchen Geschichten, man hat uns gewarnt, dass sie extrem manipulativ sind, weil sie Macht über dich spüren. An einem Blockposten sagten sie uns: „Hier kommt ihr nicht weiter, hier wird heute keiner mehr durchgelassen“ oder „Heute nehmen wir Zaporizhja ein, ihr könnt da heute nicht hin“, viele von solchen Manipulationen.

 

Es ist gut, dass Viktor standhaft und stressresistent ist, seine Erfahrung als Moderator hat ihm da sehr geholfen, spontan zu reagieren und jede Situation zu retten. Wir Frauen haben uns überhaupt nicht an diesen Gesprächen beteiligt, es war unsere Aufgabe, still zu sitzen und nur etwas zu sagen, wenn man gefragt wird. Viktor macht alles selbst, führt alle Dialoge: er kommt aus dem Auto raus, zeigt alle Dokumente, er wird gefragt: Warum bist du nicht in der Armee, wie stehst du zum Krieg, warum wollt ihr raus? All diese Fragen an jedem Blockposten… Wir haben uns eine Geschichte ausgedacht, dass wir zu unserer imaginären Oma fahren, die ins Krankenhaus musste. Wir hätten denen ja schlecht ehrlich sagen können: „Weil wir nicht in der Okkupation leben wollen und ihr alle Arschlöcher seid, die gekommen sind, um uns umzubringen“.

 

Unsere Geschichte war, dass wir zur Schwiegermutter fahren, einer alten, kranken Oma, die nach einem Schlaganfall ins Krankenhaus kam, nicht mehr laufen kann und unserer täglichen Pflege bedarf. Wir würden für ein Paar Monate zu ihr fahren und dann zurückkommen, vielleicht müssten wir die Oma auch mitbringen oder eine andere Lösung finden. Ehrlich gesagt, glaub ich nicht, dass sie mir geglaubt haben, aber ich war maximal aufrichtig. Ich habe ehrlich daran geglaubt, dass ich eine Oma habe.

 

Für uns ist es eine gute Schule, von aller Abhängigkeit nach Materiellem  loszukommen, nach Besitz, nach Sachen. Wir haben uns auf einen Umzug vorbereitet, ich habe mein ganzes Geld für neues Geschirr ausgegeben, damit wir mit neuem Geschirr, mit neuen Sachen, die uns gefallen in unsere neue Wohnung einziehen können. Jetzt sind wir mit ein paar grundlegenden Sachen rausgefahren und man hat mir selbst meine Nagelzange weggenommen. Sie mussten uns wenigstens irgendwas wegnehmen. Die scharfen Gegenstände sollte man separat aufbewahren und auf Nachfrage vorzeigen. Da sah er dies und fragte: Könnt ihr mir wenigstens die Nagelzange geben. Wir haben sie ihm gegeben. Soll er sich damit totschneiden, hoffentlich ist er schon irgendwo unter der Erde. Ich mache heute noch den Witz, letztens war ich beim Radio: „Wenn unsere Streitkräfte irgendwo einen Ork mit besonders schön geschnittenen Nägeln finden, das ist er.“

 

Als wir an all den Minen vorbeigefahren sind, hat sich ein Bild in meine Erinnerung eingebrannt: ich sehe diese Minen und muss mich immer um die überall aufgestellten Panzerigel herumschlängeln. Wir wussten nicht, wie lange es gehen wird, wo das okkupierte Territorium endet, wo der letzte Blockposten sein wird. Man sagte uns, dass der letzte Blockposten der schwierigste sein wird und er war der schwierigste. Der mentale Druck war enorm: man überprüfte unsere Notebooks, man bat um… man verlangte Geld. Nicht mal Geld – sie wollten Dollars. Man musste Verhandlungsskills zeigen, sich mit denen einigen. Ich habe zuerst den Gedanken gehabt, dass er der letzte Blockposten sein könnte, als ich im Seitenspiegel gesehen habe, dass das nächste Auto Benzin abzapft. Man hat uns gesagt, dass man beim letzten Blockposten nach Geld oder Benzin fragen wird. Ich hab nur noch gehofft, dass alles glatt läuft, dass die Notebooks gründlich genug gesäubert wurden, alle Telephone, alle Social Media-Posts… dann haben wir mit denen verhandelt und denen 1000 Hriwna (etwa 25 Euro) bezahlt. Wir haben sie überredet: „Guck dir doch mal mein Auto an, was für Dollar, wovon redest du…“. Er hat kurz in unser Auto reingeguckt und wir sind weitergefahren. Wir fahren weiter auf dieser schlechten gekrümmten Straße, vorbei an Minen am Rand, es gibt lange keinen Blockposten, wir sind müde, wir sind mit unseren Nerven am Ende, da kommt uns ein Krankenwagen entgegen. Sie mussten anhalten, um uns vorbeizulassen. Und im Krankenwagen sitzt eine Krankenschwester, lächelt und winkt mir zu. Und dann kamen die Tränen. Man versteht es aber noch nicht komplett. Wir haben es erst verstanden, als wir beim ukrainischen Blockposten ankamen und sie uns mit „Slava Ukraini“ begrüßt und ein Paar Wörter auf Ukrainisch gesagt haben, dann ist das ganze Auto in Tränen ausgebrochen.

 

Das ganze Auto weint, aber ich kann nicht weinen. Das lustigste, woran ich mich bei dieser Evakuation erinnere, ist dass hinter mir eine Frau saß, die die ganze Zeit gebetet hat, ein permanentes Flüstern in meinen Rücken, zwölf Stunden lang Gebete im Ohr. Ich konnte es nicht mehr aushalten, ich sagte ihr nur „seien Sie mal ruhig“. Ich habe ja auch  Angst, aber ich musste ja noch mit den Orks reden, mein Gesicht wahren, Witze machen. Und sie war richtig vorbereitet, nicht nur das Vaterunser, die hatte sich richtig was ausgedruckt, sie hatte ein Gebetsbuch dabei. Und das beste war, dass sie noch ein Glas mit eingelegten Gurken mitgenommen hat. Ich habe morgens beim Rausfahren ein Glas wieder rausgelegt und dann war es wieder da, es hat sich rausgestellt, dass es zwei Gläser waren. Man fährt ja raus ins nichts, sie wollte, dass wir unterwegs was zu essen haben, man weiß ja nicht wie lange man unterwegs sein wird. Wir hatten noch richtig Glück, in Wasylywka sind Leute manchmal wochenlang festgehalten worden. Dort haben unsere Leute sie  manchmal richtig gut gebombt, sie waren richtig sauer und… du verstehst schon… Darum sind wir über kleine Dörfer gefahren. Richtig schlimm war es in Tokmak, dort gab es Berge von Altmetall, zivile Autos mit Leuten, die sich retten wollten. Sie haben einfach das Feuer auf sie eröffnet. Du verstehst, dass du es sein könntest, dem das passiert, das ist psychisch sehr bedrückend.

Man muss sich seine Fehler eingestehen. Warum ist Russland so bösartig? Weil sie sich nicht ihre Fehler eingestehen können. Krieg gegen Deutschland: Die Deutschen sind böse – wir sind gut. Aber Polen wurde von Deutschland und Russland gemeinsam zerfetzt, sie haben auch Finnland angegriffen. Und die Deutschen haben das aufgearbeitet, sie wurden dafür angeklagt. Aber die russische Armee wurde nicht für ihre Verbrechen angeklagt, nicht für die Vergewaltigungen deutscher Frauen, sie sind einfach nur „Befreier“. Es gibt Verbrechen und es muss eine Strafe geben. Wir haben einen Konflikt mit Polen wegen der ukrainischen Nationalisten, die Polen erschossen haben, weil Polen uns unterdrückt hat. Aber die Ukraine hat es zugegeben: Ja, das gab es leider in unserer Geschichte. Es war wichtig, sich einzugestehen, dass wir unrecht hatten.

 

Ich glaube nicht daran, dass es gute Russen gibt, weil ich noch nie einen Russen gehört habe, der alles ehrlich zugegeben hat. Wie sagen Russen immer: „Es sind nicht wir, es ist Putin, es ist unsere Machtelite, es ist dies, es ist das“ – aber es ist nicht Putin, der uns tötet. Als uns Janukowitsch nicht passte, sind wir auf den Maidan rausgegangen und haben ihn entfernt. Du kannst nicht immer alles von dir selbst auf Andere abwälzen. Es ist, wie wenn man dir sagt, dass du schlecht erzogen bist und du antwortest darauf: „Meine Mutter hat mich schlecht erzogen“. Deine Mutter hat dir nicht beigebracht zu rauchen, zu saufen, zu schimpfen, sie hat dir nicht gesagt: sei schlecht in der Schule. Du hast es irgendwo selbst aufgeschnappt, gib nicht deiner Mutter die Schuld. Mein Vater trinkt und raucht, ich rauche und trinke nicht. Wenn ich erwachsen werde und eine Persönlichkeit sein will, dann entscheide ich selbst. Ich habe natürlich alles mal probiert wie alle Kinder, aber ich habe verstanden, dass ich mich damit nicht assoziieren möchte, dass ich besser als das sein will.

Das betrifft alle, auch die Ukrainer und die Europäer. Die Europäer sind zu sattgefressen, denn bei denen ist alles seit siebzig Jahren stabil und dann entspannst du dich zu sehr. Wir sind auch so geworden, wir haben auch abgeschaltet: wir sind auf dem Weg nach Europa, wir haben eine neue IT-Klasse, alles wird cool hier… aber wir haben nicht geahnt, dass es so kommen würde und das ist zum Problem geworden. Man muss manchmal zum Boden der Tatsachen runtersteigen. Man muss verstehen, dass es möglich ist, dass es auch mal kein Brot gibt.

Du kannst nur Leuten etwas beibringen, die sich etwas beibringen lassen wollen. Und die Ukrainer wollen sich etwas beibringen lassen. Sie fragen immer: Was müssen wir tun, um in die NATO aufgenommen zu werden? Was müssen wir tun, um in die EU zu kommen? Und die Russen waren einfach: „Ihr wollt uns nicht aufnehmen? Dann scheiß auf euch.“

 

Wie sagte dieser russische Tennisspieler in Roland Garros: „Ich bin nur ein Sportler, ich stehe außerhalb der Politik.“ Aber Olympische Spiele sind als Ersatz für Kriege erschaffen worden, statt mit Waffen zu kämpfen, haben die Nationen durch Sport gegeneinander gekämpft. Jeder hat vergessen, wo die Olympischen Spiele unter Hitler waren und wo die Olympischen Spiele 2014 waren. Es ist Sportswashing.

Es gibt soziologische Studien, die die Veränderungen in den Einstellungen der Ukrainer seit der Unabhängigkeit erforschen, so z.B eine große Veränderung in der Einstellung der Leute 2004.  Man hat auch kurz vor der vollumfänglichen Invasion analysiert, was in den Medien von Donetsk und Luhansk vor sich geht, in den schon 2014 okkupierten Territorien. Auch nach der Okkupation von Donetsk und Luhansk kannte man sich ja trotzdem, man wusste dort, dass die Ukrainer keine kleinen Jungs essen. Doch in den zwei Wochen vor der Invasion wurde da dermaßen die Schraube in den Medien angezogen, daß Verwandte einander nicht mehr glaubten, sie haben ihre Leute in der Ukraine angerufen und sie als Banderowcy und Faschisten beschimpft. Innerhalb von zwei Wochen hat man denen so einen Nonsense aufgedrückt. Das kommt noch aus der Sowjetzeit, die Leute haben kein kritisches Denken, sie sind leicht zu lenken. Wir junge Leute sind anders, aber damals gab es eine Zeitung, einen Fernsehsender, eine Partei und es herrschte Ordnung – was da gesagt wird, das ist die Wahrheit. Dein Kopf platzt manchmal, wenn du dir das alles anhörst, was sie sich so zurechtlügen und zurechtspinnen. Es ist sehr schwierig, das psychisch auszuhalten, besonders in der Okkupation, wenn sie dir deinen Mobilfunk, das Internet, die Fernsehkanäle ausschalten und dann auf ihren Sendern verbreiten, dass die Ukraine nicht mehr existiere. Da wird enormer psychologischer Druck ausgeübt, weil du nicht mehr weißt, was du noch glauben kannst.

 

Es gibt eine Parabel oder eine Erzählung, in der einem Jungen erzählt wird „Hey, du siehst heute aber schlecht aus“ und er sagt „Nein, alles gut“. Am nächsten Tag nochmal. Und nachdem man es ihm drei Tage lang permanent gesagt hat, dann sagt er sich „Ja, irgendwie geht es mir wirklich schlecht“. Die Leute lassen sich etwas einreden, weil sie sich nicht durch kritisches Denken Distanz davon schaffen können. Sie glauben alles blind. Wenn du dir die Leute anhörst, wieviele HIMARS (kurz für High Mobility Artillery Rocket System, ein amerikanisches mobiles Mehrfachraketensystem, das in niedriger Zahl geliefert wurde, mit dem die Ukraine jedoch durch die hohe Reichweite große Erfolge bei der Zerschlagung der russischen Logistik erzielen konnte und die Offensive ins Stocken brachte – Red.)  wir hier angeblich haben und wie viele man davon zerstört hat, dann müsste die ganze Ukraine schon voll davon sein und alle sind schon zerstört. Das sind alles keine logischen Zahlen, ihr könnt nicht 2+2 zusammenzählen.

Ich habe drüben einen Onkel, der im Tschetschenienkrieg war, einer mit solidem Militärrang, seine Mutter lebt hier in Kirowograd – das heißt jetzt Kropywnitskyj. Der hat seine Mutter angerufen und sie sagt ihm: „Söhnchen, man bombardiert uns“. Und er antwortet ihr: „Nein, wir retten euch“. Es ist leichter zu glauben, dass der Spiegel krumm ist, als zu glauben, dass du hässlich bist. Ich verstehe die Russen, sie wollen keine Verantwortung übernehmen. Wenn du deine Schlüsse ziehst und zugibst „Ja, wir sind schlecht“ und die Verantwortung dafür übernimmst, dann hast du unangenehme Gefühle, inneren Diskomfort, Scham. Wofür brauchst du das? Das sind ja nur irgendwelche fremden Leute, ist doch egal. Jetzt ist die russische Freiwilligenlegion RDK, die für uns kämpft, nach Belgorod rübergegangen, um ein bisschen Lärm zu machen. Da siehst du jetzt Videos von den Einheimischen dort, die nicht verstehen „Warum wir? Was haben wir irgendwem getan?“ „Wir konnten zwei Nächte lang nicht schlafen“. Mein Gott, Kyiw schläft seit einem Monat nicht. Jede Nacht sind sie dort unter einem komplett irren Beschuss. Gottseidank gibt es mittlerweile eine gute Luftabwehr, aber selbst wenn die Raketen abgeschossen werden, fallen die Reste ja trotzdem noch irgendwo runter. Sie sind trotzdem noch eine Gefahr.

 

Darum sag ich immer: man soll den Feind nicht unterschätzen. Selbst wenn es alte Sowjettechnik ist, ist es trotzdem noch Technik. Sie schießt und tötet riesige Mengen von Menschen. Ein altes Maschinengewehr ist immer noch ein Maschinengewehr, es schießt. Glücklicherweise lernen unsere Streitkräfte sehr schnell, sie verstehen, wofür sie kämpfen, verstehen, dass sie unser Land schützen. Dank ihnen können wir jetzt hier seelenruhig sitzen und Kaffee trinken. Es ist wichtig, sich das immer in Erinnerung zu rufen.

Es ist Teil unserer Geschichte, dass Nachnamen geändert wurden, russifiziert wurden, dass neue Endungen eingesetzt wurden. Sie haben Wörter geändert, es hieß, dass nur Dorfbewohner Ukrainisch sprechen. Und wenn du in die Hauptstadt gefahren bist, da galt es als prestigevoll, Russisch zu sprechen. Wenn du da mit Ukrainisch angefangen hast, dann kam als Reaktion: „Was bist du denn für ein Bauer?“ Ich bin sehr glücklich, dass sich das jetzt ändert, dass die Menschen ihre Augen öffnen, sehen, was sie eigentlich haben und auch anfangen, wertzuschätzen, was sie haben. Es ist traurig, dass es immer erst solche Opfer braucht, damit die Leute anfangen klar zu sehen, aber wahrscheinlich geht es nur so.

 

Das ist der Unterschied zwischen einem Nazi und einem Nationalisten. Ein Nationalist kennt seine Geschichte, er versteht sie, und ein Nazi kennt seine Geschichte nicht und denkt sich einfach irgendwas aus, was ihm gefällt, um seine Leere zu füllen. Die Russen kennen ihre Geschichte nicht, du fragst sie, wie lange sie unter mongolischer Herrschaft waren, das wissen sie nicht. Sie haben sich ihre eigene „Kiewer Rus“ ausgedacht, die mit ihnen in Wirklichkeit gar nichts zu tun hatte.

 

Sie leben dort in Ruinen. Ein Melitopoler, ein Bekannter von mir, hat mir erzählt, wie er mit einem russischen Militärangehörigen ins Gespräch kam. Oder was heißt „ins Gespräch kam“: du antwortest, wenn sie dich was fragen. Er sagte ihm: „Ihr habt so ideale Straßen, ich dachte Melitopol ist irgendeine Kleinstadt und ihr habt hier eine Eishalle, ein modernes Schwimmbad, neue Schulen, Kindergärten. Warum habt ihr das und wir nicht?“. Wir hatten in den letzten Jahren eine Runderneuerung, es gab Förderungen dafür, auch aus Europa. Es ist ein Zeichen dafür, dass sie geschockt waren. Sie sagen jetzt: „Es ist super hier, wir wollen hier bei euch leben.“. Sie bringen schon ihre Familien rüber. Sie wollen nicht weg, man gibt denen ja jetzt unsere Wohnungen, die leer stehen und dann leben sie dort: „Warum auch nicht, die Wohnungen sind ja gut renoviert, ist doch alles OK“. Du mußt jetzt immer hin, um zu beweisen,  dass es deine Wohnung ist, dass du der Besitzer bist und dann gibt es theoretisch die Möglichkeit, dass sie dir nicht weggenommen wird. Aber zu 99 Prozent wird sie dir weggenommen.

In den ersten Monaten wurde bei uns noch marodiert, jetzt ist es zielgerichtetes Extrahieren aller wertvollen Sachen. Weil du nicht mehr da wohnst, wirst du enteignet und man gibt die Wohnung an jemanden vom russischen Militär oder einen Unterstützer Russlands und fährt alles raus, was da ist, ganze Autos voll Technik, mit allen wertvollen Sachen. In den ersten Wochen wurde noch von der eigenen Bevölkerung marodiert, aus Panik heraus: Es ging sehr schnell mit der Invasion und keiner wusste, was morgen sein wird. Es war die Angst da, dass es morgen nichts zu essen geben würde, dass es überhaupt nichts mehr zu kaufen geben würde und dann gingen sie los und haben angefangen zu klauen, zuerst vor allem Essen, aber danach auch Technik, weil sie auf den Geschmack gekommen sind und sich ungestraft gefühlt haben. Später haben viele Leute es bereut und alles zurückgegeben, weil sie verstanden haben, was sie in Panik angerichtet haben. Du weißt ja nicht, was morgen sein wird, was in einer Stunde sein wird, ob du bombardiert wirst, Unmengen von Panzern sind in die Stadt reingefahren…

 

Wenn ich aus Melitopol jetzt Verrätervideos sehe, wie sie erzählen, dass sie von ukrainischen Nazis dafür unterdrückt wurden, daß sie Russisch sprechen, sitze ich da und denke: ich kenne genau drei Leute, die privat Ukrainisch gesprochen haben. Auf der Arbeit – ja, viele. Wir hatten Cafés, wo alles auf Ukrainisch war. Aber das ist schon alles sehr lustig. Auch wenn sie keinen Unterschied machen zwischen Nationalisten und Nazis. Ein Nationalist ist jemand, der sein Land liebt und sagt, dass das Land zuerst kommt. Das ist keiner, der sagt: ich töte euch, weil ihr Russisch redet. Das macht einfach nur irgendwelches Gesocks, selbst Skinheads sind ja bei uns eigentlich schon längst ausgestorben. Aber weil so eine politische Spaltung betrieben wurde – und jetzt wissen wir auch mit wessen Geld, für russisches Geld natürlich, Medwetschuk (Oligarch, Putinvertrauter und Vorsitzender der mittlerweile verbotenen Oppositionsplattform-Partei – Red.) und solche Leute. Selbst bei uns in Melitopol hat Balitzkiy, unser jetziger Gauleiter, bei uns neben dem Stadtrat ein Gebäude gekauft und hat dort eine Bürgerorganisation mit dem Namen „Schutz der russischen Kultur“ aufgemacht. Er hat einfach Geld aus Russland bekommen und hat dann „russische Kultur geschützt“. Welche russische Kultur? Unser Bürgermeister hat Russisch gesprochen, was soll das für ein Problem sein? Es ist wichtig zu verstehen, dass ständig gesagt wurde, die russische Sprache wird unterdrückt, dabei hat keiner darüber nachgedacht, dass eigentlich immer nur die ukrainische Sprache unterdrückt wurde. Warum können wir Einwohner der Ukraine keine Bücher auf Ukrainisch lesen? Es gab keine ukrainischen Bücher in den Buchläden.

 

Du kannst es aus offenen Quellen recherchieren: Was hat Russland gemacht?  Es geht um Expansion. Vor der militärischen Okkupation gab es eine kulturelle Okkupation. Russland hat alle Rechte aufgekauft, sie haben eine raffinierte Konstruktion namens GUS (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten – Anm.) aufgezogen. Sie haben einfach in Europa alle Rechte für z.B. Stephen King aufgekauft – für die gesamte GUS. Europa ist es egal, wem sie die Rechte verkaufen, Moskau zahlt riesiges Geld und sagt: „Alle Rechte gehören uns“. Wenn du ein Buch auf Ukrainisch drucken willst, brauchst du eine Erlaubnis aus Moskau. Und sie geben dir keine Erlaubnis, sie sagen: Nein, wir haben die Rechte, wir machen es alles selbst. Es gab russischsprachige Schulen, selbst hier in Lwiw. Man hätte vieles schon damals kritisch sehen sollen. Wir sind auch so gewesen, wir haben immer Russisch gesprochen, wir sind in russischsprachigen Familien großgeworden. Wir mussten erst all den Schrecken durchleben, um alles zu verstehen, um dahin zu kommen, wo wir heute sind und zu dem zu finden, wer wir heute sind. Vorher haben wir uns diese Fragen nie gestellt. Wir müssen uns die wichtigste Frage stellen: Was kann ich als Ukrainer der Ukraine geben und wie kann mich als Ukrainer zu erkennen geben? Wenn ich in Deutschland bin, wie verstehst du, dass ich Ukrainer bin, wenn ich Russisch spreche? Dann denkst du ich bin Russe, Belaruse oder vielleicht Russlanddeutscher.

Es ist interessant, wie man immer sagt, Sprache würde keine Rolle spielen, aber das erste, was die Okkupanten gemacht haben bei uns in der Stadt – sie haben alle Aushänge durch russischsprachige Aushänge ersetzt. Man hat Bücher verbrannt, Schulbücher, Wyschiwankas, sie haben alles mit ethnischer ukrainischer Symbolik vernichtet. Das haben die Russen sehr hinterlistig gemacht: sie haben uns eingeredet, dass alles aus Rußland cool ist und wir waren, auch wenn man eigentlich ein bewusster Bürger ist, immer im russischen Kulturkontext. Ich habe zum Beispiel immer russische Humorsendungen geguckt, weil sie besser und mit mehr Budget gemacht sind. Die Eltern haben dir aus ihrem Sowjetgedächtnis heraus ständig wiederholt, dass du nach Moskau musst, weil da so viel Geld ist. Die Russen haben uns die Illusion in den Kopf gepflanzt, dass Rußland gleich Moskau ist. Und Russland ist nicht gleich Moskau, das haben wir hier erst am eigenen Leib erfahren müssen.

 

Das ist ein Problem unseres Staates. Man hat Angst, politische Fernsehkanäle zu schließen, Medwedtschuks Kanäle wurden erst ein Jahr vor dem Krieg dichtgemacht, als die Situation schon extrem aufgeheizt war. Das Problem ist, wir haben zwar eine Demokratie, aber alle Politiker stammen noch alle aus der Sowjetunion. Wir haben noch keine jungen Politiker, die wenigstens in den 90ern geboren sind, nach dem Zerfall der Sowjetunion. Die Politiker hatten alle noch ihre Jugend in der Sowjetunion, das sind halt alles noch sowjetische Jungs.

Aber klar gibt es auch Leute, die es lieben, unter Russland zu leben. Russland hat denen jetzt minimale Konkurrenz und maximale Verdienstmöglichkeiten gegeben. Du arbeitest einfach für die Russen oder Donetsk-Leute, die jetzt ankommen und hast dann dein gemütliches Plätzchen. Leider gibt es das auch. Nach dem Sieg werden die, die sehr aktiv waren, z.B. die Gauleiter, alle wegrennen, weil sie Angst kriegen. Aber die Befehlsempfänger, die Mitläufer, die Anpasser, die werden alle sagen: Ich war das nicht, ich hab nur meine Arbeit gemacht, der Direktor hat mich mit einer Pistole gezwungen. Du wirst weder Beweise noch Gegenbeweise haben, ob das wahr ist oder nicht. Du kannst sie nicht alle in den Knast setzen und sie versorgen. Meine Hoffnung ist, daß sie sich entweder selbst liquidieren im Sinne von rausfahren oder es wird wie in Israel gemacht, wo man sich für die Juden rächt und dann plötzlich Leute tot auffindet. Du siehst gerade in der Okkupation, wie das läuft: Autos explodieren regelmäßig. Und ich sag dir, die Hälfte davon macht der FSB selbst, die setzten zuerst lokale Gauleiter ein, dann bringen sie Russen rein und dann gibt es merkwürdige Zufälle. Wie in Akimowka, da hat man zunächst einen lokalen Gauleiter eingesetzt, dann haben sie eine Russin reingebracht und am selben Tag fliegt sein Auto in die Luft. Arbeiten unsere Partisanen so? Nein, du jagst jemanden in die Luft und schiebst es einfach auf ukrainische Terroristen. Niemand mag Verräter, niemand braucht Zeugen, sie haben immer eiskalte Berechnungen mit allen, die für sie arbeiten, es ist seltsam, dass manche Leute das nicht verstehen.

 

Sie zahlen ihnen einfach sehr viel Geld. Lehrer, die sich bereit erklärt haben, für Russland zu arbeiten, kriegen jetzt das Vierfache. Einer meiner Kollegen in Okkupation hat mir letztens erzählt, dass jemand zu ihm in den Laden gekommen ist und es hat sich rausgestellt, dass der Typ aus Moskau ist, man hört es ja an der Sprache. Er hat ihn gefragt: „Was machst du hier?“ Da sagt er: „Ich bin hierhergekommen, um als Lehrer zu arbeiten, weil man mir hier das Doppelte von dem zahlt, was ich in Moskau bekommen habe“. Klar, ein Lehrer, der in Moskau 200 Dollar Gehalt bekommen hat, denkt jetzt, dass er 400 Dollar kriegt.  Aber eigentlich liegt es nur daran, dass der Kurs des Rubels nicht liquide ist und er denkt halt in Rubeln und checkt es nicht… Es ist aber auch wichtig zu verstehen, dass es eine sehr kurzzeitige Angelegenheit ist, weil sie das gleiche in Donetsk und auf der Krim gemacht haben, um die Leute positiv zu stimmen. Sie zahlen nur die ersten 1-2 Jahre gut und dann sagen sie: OK, das reicht. Und sonst haben noch die psychologische Methode, ständig zu sagen: „Die Ukraine hat dich hängen gelassen. Wozu brauchst du die Ukraine? Hier ist eine leerstehende Wohnung, sie gehört jetzt dir, wir schenken sie dir.“. Und dann ziehst du in diese Wohnung ein und denkst „Unter der Ukraine hatte ich nichts, jetzt habe ich eine vollmöblierte Wohnung. Wozu brauche ich die Ukraine?“ Wenn die Ukraine zurückkehrt, muss er die Wohnung ja wieder abgeben. Deshalb gibt es natürlich viele Leute, die die Seiten wechseln und sich anpassen. Aber die hast du immer und überall, selbst hier in Lwiw findet man regelmäßig lokale Leute, die die Koordinaten mit dem Feind teilen. Viele sind noch während der Sowjetunion hierher umgesiedelt wurden, ihre Eltern waren sowjetische Militärangehörige, KGB. Es ist kulturelle Okkupation, sie gehen alles sehr pragmatisch an. Wenn du blind bist und es nicht kritisch betrachtest, dann merkst du es nicht.

Ich habe die Eier zu sagen, dass ich Unrecht habe. Wir Leute vom Donbass und aus anderen Regionen, haben Schwierigkeiten, zuzugeben, wenn wir Unrecht haben. Als ich geboren wurde, haben alle um mich herum Russisch gesprochen, ich bin nicht schuld daran, dass ich Russisch gesprochen habe. Ich habe sehr wenig Ukrainisch gehört, mein Kindergarten und meine Schule waren russischsprachig. Darum war es für mich nötig, meine mentale Einstellung zu ändern, um mich selbst als Ukrainer zu finden und zu verstehen, wer ich bin. Es ist ein schwieriger Schritt, sich selbst anzuklagen, aber es ist ein nötiger Schritt für uns alle. Die Europäer müssen sich selbst dafür anklagen, dass sie ihre Augen verschlossen haben und so getan haben, als ob die Ukraine nicht zu Europa gehöre. Dabei ist die Ukraine geographisch sogar das Zentrum von Europa. Man braucht nicht so zu tun, als wären wir irgendwie anders, als wären wir so etwas wie Europäer zweiter Klasse.

 

Alle schwören auf Nawalny und feiern Nawalny ab, aber Sobtschak, Dud, Nawalny (prominente russische oppositionelle Politiker und Medienmacher – Anm.), all diese Leute sagen immer „Die Krim? Oh, da müssen wir die Einwohner der Krim fragen?“. Und jetzt, wo Belgrorod bombardiert wird und alle Witze darüber machen, dass man die Belgoroder fragen soll, ob sie in die Ukraine wollen, da reagieren sie so: „Wie können sie es wagen, solche Witze zu machen?“. Das habe ich in den russischen Nachrichten gelesen. Aber wenn ich Russen frage: Es gibt in Moskau und St. Petersburg mehrere Millionen ethnische Ukrainer, wenn die jetzt alle abstimmen würden, dass Petersburg zur Ukraine gehört, wird es dann akzeptiert? Nein, ziemlich sicher nicht, dann wird sofort geschossen. Warum erlaubt ihr es euch dann? Dann können sie nur schweigen, weil sie sich schämen, zuzugeben, dass sie dafür verantwortlich sind. Genauso wie wir uns dafür schämen, zuzugeben, dass wir die Grenzen verwischt haben. Ich habe ukrainische und russische Sachen geguckt und war im russischen Popkultur-Kontext: „Was gibts neues bei Filip Kirkorow (Popcelebrity, seit der Sowjetzeit bekannt – Anm,), was läuft auf TNT (ein beliebter russischer Unterhaltungskanal, der Gazprom gehört und somit de-facto staatlich ist – Anm.)“. Ich sag dir ehrlich, ich habe dieses Jahr nicht Russisches geguckt. Ich habe mir einen Marker gesetzt, dass ich nichts darüber wissen will, was bei denen drüben los ist und ich habe es alles vergessen. Und ich sag es dir: Mein Leben hat sich verändert. Ich fühle mich so viel besser, seit ich das alles nicht mehr weiß. Dafür hab ich jetzt Salome Kruschelnytska entdeckt, eine großartige Opernsängerin, die die Konzertsäle von Europa und der Welt in Sturm erobert hat. Sie hat als eine der ersten die schwierigsten Partien von Wagner gesungen, sie ist in Afrika aufgetreten, war die Beyoncé ihrer Zeit. Man hat uns nichts von ihr erzählt, man kennt sie vielleicht noch hier in Lwiw, im Westen der Ukraine. Wer hat uns gelehrt? Sowjetmenschen. Wir haben von ihnen sowjetische alternative Geschichte gelernt.

 

Selbst wenn du dir jetzt diese Geschichtslehrer anguckst, die für die Gauleiter arbeiten, wie sie sich in Videos beklagen: „Die ukrainischen Nazis haben uns verboten, im Unterricht die Wahrheit zu sagen.“. Und ich sitze da und sage mir nur: „Du hast mich gelehrt und warum verstehe ich Dinge und du nicht?“ Das sind seltsame Dinge: Warum waren wir in der gleichen Klasse und du bist ein Kollaborateur und ich nicht? Wo haben sich unsere Wege getrennt? Die Wege trennen sich in den Familien. Wenn deine Familie merkantil ist und nur über Geld redet, dann folgst du diesem Geld, denn sie zahlen dir irrwitzige Summen.

Ich verstehe genau, daß ich hier nicht das Geld verdienen kann, das ich vorher verdient habe. Ich kann nicht so leben, wie ich vorher gelebt habe, ich kann nicht reisen. Ich habe vorher 3000 Hriwnas (1 Euro = ca. 40 Hriwnas)  für meine Wohnung bezahlt und heute zahle ich 15000 Hriwnas. Ich muß hier nicht 6000 Hriwnas verdienen, damit ich noch 3000 Hriwnas für Ausgaben habe, sondern 30000 Hriwnas. Bei uns war alles billiger, hier ist die ukrainische IT-Hauptstadt, hier sind sehr schöne touristische Aussichten, wir sind nah an der EU. Die Leute wechseln hier oft ihre Autos. Wir haben ein Auto aus dem Jahre 2006, ein Chevrolet Aveo und ich weiß, dass es nicht das beste Auto ist. Aber als ich über Minenfelder gefahren bin, nach dem Regen, nachdem Panzer drübergefahren sind, war da überhaupt keine Straße mehr, dann war mir das scheißegal. Ich fahre in meinem Auto voller Kratzer, mit Löchern, von der Fahrt so richtig mitgenommen und ich denke mir: Es ist alles in Ordnung, nicht so schlimm. Hauptsache, ich bin selbst am Leben, ich bin heil rausgekommen. Ich kann jetzt nicht mein Auto wechseln, ich kann nicht in meine neue Wohnung einziehen, die ich nicht mehr habe. Wir wurden durch den Krieg um zehn Jahre zurückgeworfen, wir müssen alles bei null anfangen. Dabei wollten wir noch nicht mal umziehen, wir hatten alles in unserer Stadt. Du warst Jemand und jetzt bist du Niemand, das schlägt dir auf dein Selbstbewusstsein, auf alles.

 

Um nach der Okkupation hier zu leben, muss man eine Perspektive glauben. Man muss daran glauben, dass die Sonne nicht nur scheint, sondern auch so richtig wärmt. Das hält uns hier am Leben. Wir glauben daran, dass wir hier leben können, dass wir hier Geld verdienen können. Wir hätten ja auch über die Krim rausfahren können, aber die Entscheidung stand nie im Raum, wenn wir rausfahren, dann nur in die Ukraine. Ich weiß, dass ich mich schämen würde. Ich weiß, dass man mich jeden Moment in die Armee einziehen könnte, um die Heimat zu verteidigen. Das wird jetzt wahrscheinlich pathetisch klingen: Es wird für mich eine Ehre sein, für das Land zu sterben, ich werde mit mir selbst im Reinen sein. Ich kann nicht in Europa leben, Smoothies trinken und darauf warten „Wann befreit sich die Ukraine denn endlich, wann kann ich da mal hinfahren und den Sieg feiern“. Ich kann das in meinem Kopf nicht vereinbaren. Ich verstehe Leute, die rausfahren, die ihre Kinder retten. Ich habe Freunde, die sind in Amerika, aber sie wollten immer hin, haben versucht, eine Green Card zu gewinnen, das war ihre Chance auf einen Neubeginn, alles bei null anzufangen. Ich verurteile sie nicht, sie wollte immer dort leben. Und ich wollte immer in der Ukraine leben, warum soll ich dann rausfahren. Das war meine Entscheidung, hier zu bleiben. Viele sagen mir „du bist ein Trottel“, ich hätte rausfahren können, hätte als Moderator in Georgien arbeiten können auf Russisch für die ganzen gut zahlenden russischen Emigranten dort, ich hätte mit denen richtig Geld verdienen können. Aber die Leute dort sind nur emigriert, weil sie Angst vor der Armee hatten, nicht weil sie sich für ihr Land schämen. Ich bin rausgefahren, weil man mich in der Okkupation umgebracht hätte. Oder ich wäre in Haft als Terrorist und man würde mich mit Stromschlägen foltern. Es wäre eine Frage der Zeit gewesen, bis sie mich gefunden hätten.

 

Die Russen haben bei sich Kameras und hatten Angst zu protestieren. Wir hatten ja auch schon Kameras auf den proukrainischen Protesten und dann haben sie viele Teilnehmer zu Hause besucht, sie verhaftet. Wenn man mir sagt, daß die Russen Angst hatten, dann kann ich denen Videos zeigen, wie unsere Männer und Frauen sich Panzern entgegengestellt haben. Man hätte sie ins Gefängnis sperren können und uns hätte man umbringen können. Individuell ist es verständlich, sie haben in ihren Augen eh mehr gemacht als sie gedacht haben, dass sie es sich erlauben können. Aber es gibt keine Limits. Wenn du wirklich protestieren wollen würdest, dann hättest du Wege gefunden, du hättest Leute mobilisiert und Geld gesammelt. Wir haben hier Partisanen, die Autos in die Luft jagen, die Stellungen des Feindes verraten. Sie sind dazu bereit. Es ist klar, dass ich mich nicht mit solchen Leuten vergleichen kann, ich bin kein Partisane. Aber ich habe für mich gewählt, dass ich in der Ukraine bleibe. Ich kann jetzt nicht aus dem Land, selbst wenn ich will. Natürlich habe ich Angst, kämpfen zu gehen, denn ich kann es nicht, ich bin mehr ein Kreativgeist. Ich sehe sportliche Jungs, die haben wenigstens den Körperbau, um mit den enormen körperlichen Anforderungen im Krieg klarzukommen. Ich weiß, daß ich ein Schwächling sein werde. Aber es ist besser, ein Schwächling zu sein und mit sich selbst im Reinen zu bleiben.

 

Wenn ich was über den Krieg sage, fängt Tanja sofort an zu weinen, denn sie weiß, dass man weggehen und nie wiederkommen kann. Man kann aber auch weggehen und wiederkommen, es ist Glückssache. Viele erfahrene Kämpfer, die seit 2014 im Einsatz sind, sind aus reiner Dummheit gestorben – einmal vergessen, die kugelsichere Weste anzuziehen oder einfach nur ein Treffer mit der Artillerie. Und dann gibt es Trottel, die einfach Glückspilze sind. Aber es gibt ein Verständnis davon, dass der Krieg früher oder später zu jedem ins Haus kommen wird. Entweder du selbst oder ein Familienmitglied wird an die Front ziehen, jemand von deinen Leuten wird dort fallen. Jeder hier wird eine seelische Narbe davontragen. Mein Onkel ist gefallen: er hatte eine Frau, zwei Kinder. Er hatte alles im Leben. Er ist losgezogen und hat sich als Freiwilliger gemeldet. Er hat irgendwann gedient, hatte etwas Erfahrung, er sagte: „Wenn nicht ich, wer dann?“ Solche wunderbaren Menschen, die uns verteidigen, wir müssen ihnen ewig dankbar sein. Man sagt nicht umsonst, daß das Licht der Nation verschwindet, denn die besten und patriotischsten Leute gehen in den Krieg. Die größte Hoffnung, die ich habe, ist, dass die Verwandten dieser wunderbaren Leute, die diesen furchtbaren Verlust erfahren haben, jetzt nie mehr loslassen werden. Dieser Schmerz wird sie zwingen, politisch aktiv zu bleiben, zur Wahl zu gehen, nicht mehr zu sagen, „wir sind kleine Leute, von uns hängt nichts ab“. So wie sie in Russland sagen: „Ich habe nicht Putin gewählt“. Niemand hat Putin gewählt, wenn man ihn fragt.

 

Wir haben das jetzt alles noch einmal durchlebt. Mein Kopf tut mir jetzt weh von all dem Russisch, der Kopf muss nachdenken, was er sagt, ich habe die Sprache schon etwas rausgedrückt. Es war am Anfang hier auch umgekehrt mit Ukrainisch nicht anders. Wir haben zwar vorher auf der Arbeit Ukrainisch gesprochen, aber sonst wenig. Es ist relativ leicht, zu Hause Ukrainisch zu sprechen, aber öffentlich will ich makellos sein, ich bin aufgeregt. Ich bin heute noch nicht in der Lage, hier eine Veranstaltung zu moderieren, weil ich Angst habe, dass mein Ukrainisch nicht gut genug ist, dass ich irgendwo hängenbleibe und mich danach dafür schäme. Ich war Top Level-Moderator bei uns in Melitopol und wenn du einen gewissen Status in deiner Stadt erreicht hast, dann willst du den auch hier haben.

Melitopol hat 2014 sehr viele Flüchtlinge aus Mariupol, aus der Donetska Oblast angenommen, weil wir Nachbarn sind. Ich war damals im Koordinationsstab, ich habe mit ihnen geweint, habe mir ihre Sorgen sehr zu Herzen genommen. Und einen Monat später habe ich sie schon „Neue Melitopoler“ genannt: wir wollten ihnen zeigen, dass sie zu uns gehören. Jetzt, wo ich selbst in Lwiw bin und man mir sagt „Jetzt bist du ein Neuer Lwiwer“, dann ist es so, als würde man dir deine Wurzeln nach Melitopol abschlagen. Und ich will kein Lwiwer sein, ich will ein Melitopoler in Lwiw sein, ich nenne mich und unsere Leute Melitopoler Lwiwer, so wäre es richtig. Wir haben den Donetsk-Leuten damals ihre Identität überklebt – wir integrieren sie, sie können hier arbeiten, sie sind jetzt Melitopoler, fertig. Das war unser Fehler, man muss den Leuten die Möglichkeit geben, mit ihrer Heimatregion verbunden zu bleiben und ihrer Heimat zu gedenken. Das war eine Niederlage der Ukraine.

 

Wir haben hier auch das Immigrantensyndrom. Wir werden hier nie Einheimische sein, wir denken anders. Wir wollen z.B. nicht in einem österreichischen Altbau im Zentrum wohnen wie die Touristen. Wir sind es gewohnt, in einem neuen modernen Haus zu leben und die Lwiwer sind so beeindruckt von allem Alten, der geschichtsträchtigen Atmosphäre, sie wissen es im Gegensatz zu uns zu schätzen. Wir hatten keine Kunst, keine Ausstellungen, niemand kam zu uns. Zu Sowjetzeiten hat Russland sich nicht darum gekümmert, es gab ein Museum mit irgendeiner Proletariergeschichte. Hier gibt es an jeder Ecke eine Ausstellung, Musiker, die spielen, ein Haufen Museen. Man muss seine Geschichte lernen, z.B ist in Melitopol Donzow geboren, das war der Urvater des ukrainischen nationalen Idee, ein Pädagoge, er hat die Lwiwer gelehrt, nationalistisch zu denken. Das ist ja das Ding, dass ein Melitopoler die Lwiwer gelehrt hat, nationalistisch zu denken, denn Melitopol war ukrainischsprachig, man hat aber Russen dahin umgesiedelt. Das zeigt, dass wir ein Land sind. Wir hatten in unserer Oblast Ukrainisch in allen Dörfern, nur in der Stadt war es en vogue, Russisch zu sprechen, da hast du dich für Ukrainisch geschämt. Selbst heute sprechen sie in den Dörfern Ukrainisch oder Surzhyk (eine Mischsprache – Anm.). Wenn du über die Grenze nach Belgorod gehst, hast du auch dort in den Dörfern immer noch Omas, die Ukrainisch sprechen.

Wenn ich Ukrainisch spreche, wundern sich die Lwiwer hier manchmal, wie rein meine Sprache ist, sie loben mein schönes Ukrainisch, denn ich habe Literatur-Ukrainisch gelernt und sie sprechen natürlich untereinander ihren regionalen Slang. Wir haben hier unzählige Surzhyk-Mischformen, jede Region hat natürlich ihre Eigenheiten, global gesehen natürlich vier größere Formen: Nord, Süd, West, Ost. Im Norden z.B etwas gröber, es ist nah an Belarus, belarusisch hat viel aus dem Ukrainischen und aus dem Polnischen. Wenn wir mit einem Belarusen sprechen, dann versteht er uns und wir verstehen ihn –  z.B „Dapomoga“ und „Dopopoga“ (Hilfe), da wo sie ein „o“ haben, haben wir ein „a“. Das geht mit einem Russen nicht, die Sprache ist ganz anders.

 

Unser Staat und unsere Leute haben nicht in Richtung Europa und Westen gearbeitet, wir haben keine Aufklärung darüber betrieben, wer wir sind. Wir haben es auch selbst nicht wertgeschätzt und verstanden, was wir eigentlich haben. Jetzt verstehen wir es. Jetzt haben wir einen Krieg der Ukraine um ihre wirkliche Unabhängigkeit. Wir sind juristisch 30 Jahre unabhängig, aber in den Köpfen kommt diese Unabhängikeit erst jetzt an. Jede Unabhängigkeit nach der Sowjetunion endete mit Blutvergießen – Moldau und Transnistrien, baltische Staaten, früher Tschechoslowakei, Zentralasien. Sie haben den polnischen Präsidenten getötet, sie haben überall ihre Spuren hinterlassen, Georgien, Kasachstan wäre wohl als nächstes dran, weil dort im Norden viele ethnische Russen leben.

Ich habe nichts gegen Leute, die rausfahren, das ist sicherer, man ist in Europa, man wird dort freundlich empfangen, aber ich will mit meinem Land sein, ich will ein Ukrainer sein. Ich bin ehrlich gesagt sehr kritisch denen gegenüber, die rausfahren und dann Russisch sprechen. Wenn du irgendwo zu Besuch bist, dann ziehst du saubere Socken an und nicht stinkende Socken an. Wenn du in ein Land kommst, du wirst z.B. von den Deutschen empfangen, sie geben dir Geld, eine Wohnung, von Steuerzahlern bezahlt, du musst denen zeigen, dass du ein Ukrainer bist, zumindest mit der Sprache in der Öffentlichkeit. Zu Hause kannst du gern Russisch sprechen.

Ich mache einen Podcast mit Melitopolern, ich hatte ein Interview mit einer Frau in London, die in der Stadtverwaltung arbeitet und Wohnungen an Geflüchtete vermittelt. Sie erzählte mir von einem Fall, wo ein Londoner sie angerufen hat und gesagt hat: „Nimm sie zurück, das sind keine echten Ukrainer“. Sie sagt: „Was heißt hier keine echten Ukrainer, ich habe sie überprüft“. Dieser Engländer hat sie freundlich empfangen, hat sogar ein Gedicht von Taras Schewtschenko für sie gelernt, und sie sind irgendwo aus der Nähe von Kyiw und sie sprechen Russisch, haben russische Lieder, sind voll im russischen Kontext. Er sagt: „Wie könnt ihr nur, Russen bringen euch gerade um und ihr schämt euch nicht! Ich will richtigen Ukrainern helfen“.

 

Die Leute verstehen es manchmal nicht. Ihr kommt nach Europa, dort ist es ruhig und komfortabel, alle Leute empfangen euch gut, geben euch alles, ihr könnt dort Opfer sein und das entspannt euch zu sehr. Ich sage auch meinen Freunden: ihr repräsentiert die Ukraine, ihr zeigt, wer wir sind, ihr müsst unsere Kultur zeigen. Wir sind mehr als Klischees der Russen über uns: weisst du z.B., dass unser Hopak-Tanz der Haupteinfluss für Breakdance ist? Sie haben in Amerika damals im Fernsehen immer eine Stunde die Kulturen anderer Länder vorgestellt und diese Leute haben dort unseren Hopak gesehen und daraus Breakdance entwickelt. Und sie nannten es „russian… dance…“ wie war das dritte Wort nochmal? Aber Hauptsache „russian“, sie konnten Russen und Ukrainer nicht voneinander unterscheiden, und das ist bezeichnend.

 

Wenn du schon nach Europa rausgekommen bist, dann hast du mehr Chancen, in Ruhe zu arbeiten, Geld zu verdienen und den Streitkräften mit Spenden zu helfen. Du lebst in maximalem Komfort, du schläfst aus, und nicht wie wir heute mit Luftalarm die halbe Nacht. Und es ist ja noch gut, in Kyiw gibt es nicht nur Alarm, da kommt auch was angeflogen. Die Luftabwehr arbeitet sehr laut und es ist sehr beängstigend, du stehst unter ständigem Stress. In Europa müsst ihr alles tun, um zu spenden, zu helfen, lernt, guck euch die besten Praktiken ab, um sie hier rüberzubringen, damit wir später, wenn wir unser Land wieder aufbauen, verstehen, wie wir hier allen Wohlstand haben können, den wir haben wollen. Es ist wie mit der Mülltrennung: ihr lernt es drüben in Deutschland, dann bringt ihr diese Mülltonnen hierher, lernt die Zeichen, dann trennt ihr euren Müll und dann habt ihr hier auch Europa. Das ist ein gutes Schlussfazit: Man muss seinen Müll trennen – physisch und im Kopf.

Die ewige Wiederkehr des Gleichen

Die ewige Wiederkehr des Gleichen

Der Beitrag befasst sich bewusst nicht mit der politischen Seite des Ukrainekriegs, sondern mit der menschlichen. Es ist ein philosophisches Sinnieren über das Leben dreier Frauen, von denen jede die jeweils andere sein könnte. Der Text soll deutlich machen, dass Politik und Krieg vergänglich sind, Emotionen und Menschlichkeit jedoch einer ewigen Wiederkehr des Gleichen folgen.

 

Die ewige Wiederkehr des Gleichen

 

„Lass uns nicht über Politik sprechen. Denn in einem Punkt sind wir uns zumindest einig: Krieg ist grausam und wir alle wollen ihn nicht.“ Diese Sätze sage ich seit Februar 2022 häufiger als je zuvor in meinem Leben. Immer wieder soll ich Stellung beziehen, mich zu Putin äußern oder erzählen, wie das Leben in Russland denn gerade so ist. Das weiß ich nicht. Was ich aber weiß, ist, dass an Krieg immer die am meisten leiden, die nicht Teil der Regierung sind.
Ich habe darüber nachgedacht, was die Menschen in der Ukraine und Russland verbinden könnte, und bin zu dem Schluss gekommen, dass sie eine wichtige Gemeinsamkeit haben: ihre Emotionen. Und wenn das bei ihnen so ist, ist es bei allen anderen auf diesem Planeten auch so und das schon seit Anbeginn der Menschheit. Und auch in Zukunft werden wir empfinden und das immer so weiter. Ein ewiger Kreislauf menschlicher Leben und Emotionen, wie in Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen.
Deswegen möchte ich in diesem Text nicht über Krieg oder Politik sprechen, sondern über Menschen. Genauer gesagt drei Frauen: der Russin Katharina, der Ukrainerin Viktoria und der Russlanddeutschen Jana, die vor, während und nach dem Ukrainekrieg leben. Jede von ihnen könnte die jeweils andere sein. Sie alle lieben, hassen, fühlen, hören, kreieren, schreien, weinen und leiden.


In der ewigen Wiederkehr des Gleichen.

 

Stell dir vor:
Jeder Wimpernschlag, jede Sekunde, jede Minute, Stunde, Tage, Jahre, jedes Leben…
…werden ewig wiederkehren, in einer unendlichen Schleife. Und jedes Gefühl, jeder Gedanke, Schmerz, Freude, Hass, Liebe, jeder noch so glückliche und unglückliche Moment deines Lebens wird dir immer und immer und immer und immer…

…wieder bevorstehen. Du wirst jedes Geräusch unendlich oft fühlen, jeden Geschmack unendlich oft sehen, jeden Augenaufschlag riechen, jeden Duft hören und jede Berührung wirst du auf der Zunge schmecken…
Jana war noch ein Kind, als sie das erste Mal in das weiche Kissen aus Teig gebissen hat, in das handwarme selbstgebackene Brot ihrer Mutter. Das Rezept und die Tradition, dazu ein kaltes Glas Milch zu trinken und selbstgekochte Marmelade zu essen, hat sie sich bis heute bewahrt. Es ist wieder einer dieser Tage, an denen der Geschmack ihrer Kindheit sie vermutlich in Melancholie hüllen wird. Denn sie hat gebacken. Der Duft schwebt für die Nase sichtbar noch in der Wohnung und das, obwohl das Brot, eingewickelt in ein Küchentuch wie ein Säugling, mittlerweile abgekühlt ist. Sie öffnet den Kühlschrank, um die Milch und die Marmelade herauszuholen. Auf halbem Wee strömt ihr der betörende Geruch des reifen Stücks Wassermelone in die Nase, das sie gestern auf dem Markt gekauft hat. Das hat sie beinahe vergessen. Sie lässt kurzerhand Milch und Marmelade stehen und greift stattdessen nach der Butter und der Melone. Mit dem Messer schneidet sie eine klaffende Wunde in das rote Fruchtfleisch und Erinnerungen strömen wie Blut aus ihr heraus…


…Erinnerungen an die Panik und das Entsetzen im Gesicht der jungen Frau, die verzweifelt ihr Kind suchte und dabei ihren Verstand verlor. Viktoria und sie sind zusammen im Bunker gesessen – in der Dunkelheit, der Farblosigkeit und dem Chaos. Jammern und Lachen, Hoffnungslosigkeit und Zuversicht, Zittern wie Espenlaub bei jedem Donnern über ihren Köpfen. Sie erinnert sich an ihre eigene Angst um ihre Tochter, die zuhause geblieben ist. Dort, wo geschossen, belagert, gebombt und vermint wurde. Der Pinsel in ihrer Hand bebt.

 

…Erinnerungen an die Hitze und Dürre und dazu den Geschmack der köstlichsten Wassermelonen, die sie je in ihrem Leben gegessen hat. Sie kann den andersartigen Ort immer noch fühlen. Das Klima, das pralle Früchte reifen lässt und ihre kindliche Haut knusprig braun färbt. Das nasse Laken, das sich nachts an ihren Körper schmiegt, um sie vor dem Erdrücken der schweren Luft zu schützen. Die schwelende Glut der Mittagssonne, die ihre nackten Kinderfüße zu einem brennenden Tanz auf dem Asphalt zwingt. Langsam, wie ein Schatten, gleitet das vertraute Trauma aus ihrem Unterbewusstsein. Das Wasser…


…die Höhe, bei der ihre Knie weich werden. Katharina spürt, wie sie schwindelt, das rasende Pochen, das Rauschen in den Ohren, der Sog der Dunkelheit…


…das sie in den Abgrund zieht, ihr die Kehle zuschnürt und ihren Atem in kleine Bläschen einschließt. Und die Angst…, die seitdem in offenen Gewässern…


…dem Flugzeug…


…nach ihr greift und ihr mit nassen Klauen die Ohren zudrückt. So schwer und betäubend, wie das Gewicht der Explosionen, das von der dichten Luft dieses Ortes getragen werden kann… deren Echo sie bis heute noch hört.
Wie durch Honig, kämpfen sich die Gedanken schwerfällig zurück ins Jetzt. Und zur Wassermelone. Die vor ihr liegt, zerschnitten in Stücke, mittlerweile in einer kleinen Pfütze aus süßem, rotem Saft…


…rotverfärbtem Wasser in einem alten Glas. Sie taucht den Pinsel hinein, um ihn auszuspülen und erzeugt Schwaden grauen Nebels. Sie hat jegliches Zeitgefühl verloren. Wenn sie malt, verfällt sie in Trance. Katharina sieht wieder auf die Leinwand und das weiße Loch, die leere Fläche in der Mitte des blau gerahmten Fensters mit Ausblick auf einen wundervollen Garten saugt ihre Aufmerksamkeit ein. Da soll sie hin, ihre Mutter. Die Schneiderin, mit einer Bahn wallenden Stoffes auf dem Schoß. In ihr Gesicht wird sie nachdenkliche, melancholische Züge malen…


…daneben zwei Scheiben Brot, belegt mit dicken Streifen Butter, wie sie es am liebsten mag. Sie setzt sich mit dem Teller an den Esstisch. Vor ihr steht ihre Lieblingsvase, bestückt mit berauschenden, dunkelroten Rosen. Die Komposition ihres Duftes perfektioniert das Sinneskonzert.
Die hat sie ihr heute zu ihrem Geburtstag geschenkt. Sie fehlt ihr, ihre Tochter. Und das Theater fehlt ihr, die Stadt, das geschäftige Treiben, ihr Zuhause. Was Viktoria mitgenommen hat, ist die Malerei. Hier kann sie malen, die Leinwand mit ihren Gefühlen überschwemmen, mit einem wilden Wasserfall aus Farben. Alles, was sie sieht, wird in Pigmenten für die Ewigkeit eingeschlossen. Jede Stadt, jeder Garten, jedes Mauerwerk, jeder Mensch, der ihr auf dieser Reise durch Schmerz und Heimweh Linderung schafft. Die Schenkerin der Rosen – sie wird sie auch porträtieren, darin verewigt Erinnerung und Dankbarkeit.
Schließlich beißt Jana in das Stück ihrer Vergangenheit und wie ein reißender Fluss überschwemmt der Saft der Melone sofort das Innere ihres Mundes. Der Bissen Brot treibt wirbelnd auf seinen Wogen, saugt sich damit voll. Bis er zu schwer wird und wie ein Stein langsam auf den Grund ihres Magens sinkt. Ihr Blick richtet sich auf die gegenüberliegende Wand… und sie hält entsetzt inne. Sie könnte schwören, sie hätte das Gesicht ihrer Tochter auf einem Gemälde gesehen…
…ein kleines Porträt, das sie sich in einem besonderen Rahmen an die Wand hängen kann, um sich immer an sie zu erinnern.


Das wird sie ihr schenken, für ihr Nähzimmer. Katharina steht auf und geht wenige Schritte zurück, um alle Pinselstriche in eine Einheit zu bringen. Sie sieht sie schon vor sich, wie sie diesen weißen Fleck mit Leben füllt.


Jana legt eine Hand auf ihre Brust und atmet tief durch. Eine Weile sitzt sie da, wie erstarrt. Schließlich springt sie auf, geht zum Telefon und beginnt zu wählen. Sie kennt die Nummer ihrer Tochter auswendig und heute lässt sie für sie ihre Melancholie im Kühlschrank zurück.
Viktoria wählt die Nummer. Begleitet von der entsetzlichen Ungewissheit, ob sie auch heute wieder rangeht.


Ihr Handy summt laut auf. Es ist sie. Als sie rangeht, versucht sie ihre Stimme ruhig klingen zu lassen und erzählt, dass sie gerade malt.
Sie malt…
…sie malt.

 

 

 

 

Fotografien: Christina Cuna
Gemälde: Valentyna Plavun, Christina Cuna
Interaktive Kunstinstallation: WE ARE VIDEO (Christian Gasteiger, Raphael Kurig)