Ekaterina Funk
Ekaterina Funk thematisiert in ihrem Beitrag das öffentliche Interesse an russlanddeutschen Themen insbesondere im Hinblick auf ihre Kollektiverfahrung der Deportation. Die Autorin beschreibt ihre persönliche Familiengeschichte, die geprägt war von Schweigen und Verdrängung, die im sowjetischen System durch die Tabuisierung entstand. und analysiert die mediale Repräsentation dieses Themas in Deutschland. Trotz eines offiziellen Gedenktags wird die Deportation in den Medien kaum behandelt, stattdessen stehen politische Themen im Vordergrund. So kritisiert der Text das mangelnde Interesse an der Vergangenheit der Russlanddeutschen.
Culture of Memory / Culture of Denial
heritagescapes: Deportation als innerer Denkort
Dass man Heimat unterschiedlich definieren kann, habe ich als Kind im Gespräch mit meinem Großvater erfahren. Als wir bei ihm zu Besuch waren, ließ er beim Kaffeetrinken beiläufig fallen, dass der Kaffee bei zuhause anders schmecke. Ich war acht Jahre alt und verwirrt. Denn wir waren zu Hause. „An der Wolga“, meinte er. Im Nachhinein hat Papa gesagt, er habe sein jetziges Haus nie als sein Zuhause bezeichnet.
– Opa, wo waren unsere Vorfahren, als der Krieg ausbrach?
– Tot.
Das war mein anderer Großvater. Sie waren nicht tot, aber er wollte sich an nichts aus dieser Zeit erinnern. Diese gegenseitigen Bewältigungsmechanismen prägten die halbstarke, wackelige Erinnerungskultur meiner Familie.
Ich kannte Wolga nicht. Ich kannte und ahnte nur die wechselnden Sprachen, die wie Codes wechselten, je nachdem, mit wem man sprach. Ich konnte damals fast nichts verstehen – der Code war mir vorbehalten – aber es reichte, um zu verstehen, dass die Menschen, die diese andere Sprache sprachen, zu uns gehörten. Ich jagte dem Sinn hinterher, so wie man versucht, sich an etwas zu erinnern, das vor kurzem noch da war. Und über dieser Jagd schwebte das Niemandsland der Wolga wie ein Wolkenschloss im Traum.
Wirklich spürbar war etwas anderes, ein schleichender Schmerz um irgendetwas, der alle Familienmitglieder ansteckte. Es gehörte sich nicht, über die Deportation zu sprechen. Aber ihr Schatten war da – in Mamas krampfhaften Versuchen, so schnell wie möglich ein Zuhause anzuschaffen, in Opas Abneigung gegen jedes Zuhause, in der leichten Verlorenheit der Älteren in Raum und Zeit – und in meinem Gefühl, ein vorübergehender Gast in jedem Kinderkollektiv zu bleiben. Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Deportation – zumindest seit der Elterngeneration – an die Stelle der Wolga als Ort der ungewollten Erinnerung getreten ist. Der Trauertag der Deportation wird von den Russlanddeutschen in Russland in der Regel unter sich begangen: der Staat erträgt die Forderung nach einer offiziellen Gedenkkultur nicht. Am 14.September 2024 ist es der russischen Generalstaatsanwaltschaft gelungen, viertausend Entscheidungen über die Rehabilitierung von Opfern politischer Repressionen aufzuheben.
Trauer- und (Gedenk?)tag der Russlanddeutschen in der BRD
Ich bin nach Deutschland ausgewandert und habe festgestellt, dass wir hier einen offiziellen Gedenktag haben. Das hat mich gefreut. Nach einer kurzen Google-Recherche über Veranstaltungen zu diesem Anlass hatte ich das Gefühl, dass es nicht darum geht, die Deportation zu thematisieren, sondern politische Statements abzugeben, – und so wird es im medialen Raum oft noch sehr charakteristisch zu einem Tag der Russlanddeutschen verkürzt. Meine Gewohnheit, mich bei der Suche nach dem Code an jedes Wort zu klammern, hat sich in einem sprachwissenschaftlichen Abschluss ergeben, und so habe ich für mich selbst eine kleine Recherche rund um ein die größten Medien – zeit.de – erstellt. Mit Hilfe des Statistikprogramms RStudio habe ich zunächst die Daten aller Artikel mit den Treffern Russlanddeutsche und Spätaussiedler aus deren digitalen Archiven exportiert, um zu sehen, ob der August als Monat mit Deportationsthematik auffällt.
Der August war in der Tat auffallend – allerdings als letzter Monat, was die Anzahl der Artikel betrifft. Insgesamt wurden seit 1999 etwas mehr als 20 Artikel im August veröffentlicht, wobei die Gesamtzahl der Artikel über Russlanddeutsche seit 1999 kontinuierlich gestiegen ist.
Die Suche nach Russlanddeutsche Deportation/Russlanddeutsche Vertreibung ergibt 7-11 Treffer bei der ZEIT, 5-13 bei spiegel.de. Keiner dieser Artikel wurde im August verfasst, und viele erwähnen die Deportation bestenfalls im Zusammenhang mit der Geschichte einer Person, häufiger aber thematisieren sie etwas ganz anderes.
Die allgemeine Google-Suche „Gedenktag der Russlanddeutschen“ ergibt einen aktuellen taz-Artikel vom 28.08.2024. Er ist zwar anlässlich des Deportationstages verfasst und so betitelt, doch im Artikel selbst geht es nicht um die Deportation und ihre Folgen. Es geht um die kurze Vorstellung einer neuen russlanddeutschen Vereinigung. Der Autorin geht es darum, dass diese Menschen „(dem russischen Staat) sehr viel kritischer gegenüber als viele derjenigen Russlanddeutschen, die schon in den 1990er Jahren nach Deutschland zogen“ stünden.
Bemerkenswert ist der hinter dem Paywall versteckte Artikel vom 27.08.2023 in der Stuttgarter Zeitung: Der Autor begründet die Motivation zum Schreiben des Artikels mit dem Gedenktag, diskutiert aber die angebliche Affinität der Russlanddeutschen zur AfD und die Unterstützung des Putin-Regimes.
Die Publikationen sind also nicht über die Deportation geschrieben oder darüber, wie man trauert, sondern sie sind zum Anlass geschrieben. Kann es sein, dass die Deportation als Denkort langsam aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden ist — so wie das Gedenken aus dem Tag der Russlanddeutschen?
Die scheinbare Bedeutungslosigkeit dieser Veränderung widerspricht der Konnotation der Konstruktion „(Gedenk-)Tag+Genitiv“. Während mit Gedenktag fast ausschließlich tragische Objekte assoziiert werden, handelt es sich bei Tag um neutrale bis positive Objekte.
So gehört der Tag der Russlanddeutschen eher in die Kategorie Frauentag, bei dem es mehr um die Sichtbarkeit einer Gruppe geht, als um Tragödie, die an diesem Tag passiert ist.
Aber was ist mit der Deportation der Russlanddeutschen generell im Mediendiskurs? Vielleicht ist der Diskurs in den Medien auch indirekt, aber nachhaltig – das lässt sich mit Hilfe von Webkorpora überprüfen. Korpora wie deTenTen werden vom Deutschen Webraum mit Hilfe von Crawler-Programmen erstellt, die Textinhalte von Webseiten (soziale Netzwerke sind ausgeschlossen) sammeln und von Werbung und Duplikaten bereinigen. So entsteht ein repräsentatives Abbild des Diskurses, der im deutschsprachigen Netz stattfindet. Zusätzlich habe ich ein Subkorpus von der deutschen Medien erstellt. Bei statista.de habe ich die Liste der fünf größten überregionalen Tageszeitungen in Deutschland abgerufen. Mit Ausnahme des Handelsblatts, das sich auf Wirtschaftsthemen konzentriert, habe ich die vier Webseiten als Subkorpus in deTenTen aufgenommen und weitere sechs hinzugefügt[1]. Damit wollte ich die Webseiten von den Landsmannschaften und Vereinen abgrenzen, um ein klareres Bild zu erhalten. Die Suchergebnisse von „Russlanddeutsch(e)“ – links im Subkorpus von .de Domäne und rechts im Subkorpus „Medien.de“ – sind in Abb. 4 dargestellt:
In der allgemeinen .de-Domain werden unter anderem Teile der Selbstorganisation (Kulturautonomie, Landsmannschaft, Jugendring) der Russlanddeutschen vorgestellt. Ferner gibt es die Beschreibung der Tätigkeit, die sie ausüben oder auf die sie sich beziehen (Agensrolle), – Siedlungsgebiet, Selbstorganisation, Bestattungstradition, Drogenkonsum, – sowie die Beschreibung von Aktionen, bei denen RD ein Objekt sind (Patiensrolle), – Rehabilitierung und Deportation.
Im Medien-Subkorpus finden sich nur drei statistisch signifikante Wörter, die sich auf zwei Ereignisse beziehen, — Vergewaltigung und Konvent beziehen sich auf den sogenannten Fall Lisa, und Einbürgerung (der Russlanddeutschen) als Thema scheint in den deutschen Medien immer noch aktuell zu sein.
Soziolinguist:innen haben das Konzept der practices of silence (Sutton and Norgaard, 2013) entwickelt, in dem soziale Praktiken wie „keine Fragen stellen“ oder „lieber nichts wissen“ den Diskurs der Verweigerung prägen. Während ich nicht glaube, dass die deutsche Gesellschaft die Tragödie verweigert, würde ich es dennoch als practice of desinterest bezeichnen. Wenn die einzigen drei Wörter, die im Medien-Subkorpus auftauchen, sich auf die äußeren Faktoren wie ein Kriminalfall und einen Einbürgerungsprozess in der BRD beziehen, dann heißt das: Ihr interessiert uns nur, wenn es uns auch betrifft. So wundert es mich nicht, dass am 28.08. nicht mehr über die Deportation gesprochen wird – im BRD-zentristischen Blick der Medien fehlt der Bezug der Deportation zu den Realitäten damals und heute. Es gibt nichts zu erinnern und nichts zu gedenken.
[1] 10 Medien im Subkorpus: zeit.de, spiegel.de, bild.de, welt.de, taz.de, faz.net, tagesspiegel.de, sueddeutsche.de, stuttgarter-zeitung.de, waz.de
Literatur- und Quellenverzeichnis
- Fairclough, N. (1989). Discource as social practice. In Language and Power, Language in social life series, pages 16–42. Longman.
- Kilgarriff, A., Baisa, V., Bušta, J., Jakubíček, M., Kovář, V., Michelfeit, J., Rychlý, P., and Suchomel, V. (2014). The sketch engine: ten years on. Lexicography, 1:7–36.
- RStudio Team (2020). RStudio: Integrated Development Environment for R. RStudio, PBC., Boston, MA.
- Russlanddeutsche Kulturreferat (2024). Steppenkinder: Folge 24. Zuletzt abgerufen am September 2024.
- Statista (2024). Auflage der überregionalen Tageszeitungen in Deutschland. Zuletzt abgerufen am 24. September 2024.
- Stuttgarter Zeitung (2023). Eine der größten Migrantengruppen: Wer sind die Russlanddeutschen? Zuletzt abgerufen am 24. September 2024.
- Sutton, B. and Norgaard, K. M. (2013). Cultures of Denial: Avoiding Knowledge of State Violations of Human Rights in Argentina and the United States. Sociological Forum, 28(3):495–524.