Olga Bolgov

Olga Bolgov

Die Kunst als Erinnerung einer vernarbten Seele

Olga Bolgov untersucht Kunstwerke, die sich mit den unausgesprochenen Traumata vergangener Generationen befassen, insbesondere den Opfern des Stalinismus gewidmet sind. Diese Werke zeigen grausame historische Ereignisse, die nicht fotografisch festgehalten wurden, und eröffnen emotionale Einblicke. Davon inspiriert, verarbeitet die Autorin ihre eigene Familiengeschichte und stellt eine erinnerte, mythische Geschichte als Gemälde dar.

Ein Pinselstrich für mich, für dich und für Opa

Zwischen Leere und Vorstellung

Ich widmete meinen ersten Pinselstrich meinen Großeltern, die in ihrer ersten Wohnung in Deutschland, in einem heruntergekommenen Hochhaus, endlich ein Sofa bereitgestellt bekamen. Sie lächelten und lachten, sie waren endlich in ihrer neuen (ursprünglichen) Heimat angekommen. Meinen Strichmännchen hatte ich ein breites Grinsen ins Gesicht gesetzt. In diesem Wohnzimmer lernte ich nach und nach ihre Vergangenheit kennen. Aber ich war zu jung es zu verstehen. Warum waren wir angeblich Deutsche, wenn wir doch alle Russisch miteinander sprachen? Wieso wurden alle traurig, wenn der Begriff „Deportation“ fiel? Da über diese Themen selten geredet wurde, wusste ich viele Jahre nicht, wer wir überhaupt waren.

Als sich die Puzzleteile nach und nach zu einem Bild fügten, wollte ich mehr erfahren und…konnte es nicht. Ich kam zu spät. Mittlerweile waren alle Familienmitglieder verstorben, die diese Zeit miterlebt hatten. Was blieb, waren nur Erinnerungsfetzen, die weitergetragen wurden. Die wolgadeutsche Heimat meines Opas konnte nur wage beschrieben werden, die Zeit nach der Deportation war ein trübes Gewässer voller Ungewissheit für die Familie. Es gibt keine Fotos, als sie unter der Kommandantur lebten und auch nicht als ihnen Rechte zugesprochen wurden.

In einer inklusiven Erinnerungskultur innerhalb einer Migrationsgesellschaft sollten verschiedene Perspektiven und Narrative berücksichtigt werden. Gedenktage können dabei eine wichtige Rolle spielen, indem sie der Geschichte und den Erfahrungen von Migrant:innen und ihren Nachkommen Sichtbarkeit verleihen und diese als selbstverständlichen Teil der deutschen Geschichte und Gegenwart anerkennen.

In Hinblick auf die russlanddeutsche Community fallen im Gedenkkalender zwei Daten ins Auge: der 28. August als zentraler Gedenktag der Russlanddeutschen, sowie der 9. Mai als ursprünglich sowjetischer Feiertag. Bei letzterem handelt es sich um den Tag des Sieges, der in Russland und einigen anderen Nachfolgestaaten nach wie vor von Bedeutung ist.

Nach der Deportation im Jahr 1941 mussten die Russlanddeutschen, getrennt vom Rest der Bevölkerung, in Sondersiedlungen leben. Dort herrschten strenge Meldepflichten und Ausgangsbeschränkungen. Die Kommandantur und die Sondersiedlungen wurden erst 1956 aufgelöst.

Heinrich Brogsitter (1932-?)

Biografie
Geboren im Gebiet Samara in Russland, wurde Heinrich Brogsitter mit seiner Familie 1941 nach Kasachstan ins Gebiet Karaganda deportiert und musste bis 1956 unter Kommandantur leben. Seit seiner Kindheit malte Brogsitter sehr viel. In seinen späteren Kunstwerken finden sich vermehrt Sowjet- und Nazisymboliken, die seine widerstrebende Haltung diesen Themen gegenüber verdeutlichen. Das Studium im Bereich Geschichte und Journalistik trug zur Verwendung von geschichtlichen Symboliken bei. So wurde er mit einem Gemälde zur Deportation der Russlanddeutschen bekannt, welches in Zeitschriften und Büchern veröffentlicht wurde. Seit 1993 lebte er in Deutschland und hatte Ausstellungen sowohl im In- als auch im Ausland.

„Das sinn‘ die…“ (1995) © Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte/ Inv.Nr.: 2002/13

Beleuchtet von der feuerroten Abendsonne kamen sie. Mit vorgehaltener Hand wurde das Unheil einfach nur als „die“ bezeichnet – die Angst war zu groß sie beim Namen zu nennen. Aber jeder wusste wer damit gemeint war. Der schwarze Rabe, links im Bild, kam immer im Dunkeln, um die Gefangenen zu überraschen. Um sie an der Flucht zu hindern. Von grausamer Hand geführt, erfolgten die Zugriffe des NKWD willkürlich. Schuldig waren die Opfer nur in den seltensten Fällen – niemand war vor ihnen sicher. Die Existenz der Beschuldigten verschwand im Nebel, der sich für die Angehörigen teilweise nie wieder lichten würde. Sie erhielten weder eine Erklärung noch einen Hinweis auf den Verbleib ihrer Liebsten. Der Abtransport war für die Gefangenen nur der Anfang von einem langen Weg der Tortur.

Der Gefangenentransporter wurde als schwarzer Rabe bezeichnet und war das Erkennungsmerkmal des NKWD.

Offiziell das Innenministerium der Sowjetunion. Bis 1954 war es verantwortlich für die staatliche Sicherheit und mit dem Begriff „NKWD“ ist immer die Geheimpolizei der Sowjetunion gemeint.

Jakob Wedel (1931-2014)

Biografie
Als Sohn russlandmennonitischer Vorfahren, ist Jakob Wedel schon im frühen Kindheitsalter mit den sowjetischen Repressionen in Berührung gekommen. In seinem nahen, familiären Umfeld wurden mehrere Personen inhaftiert – sein Vater wurde hingerichtet und seine Mutter wurde in die Trudarmee einberufen. Bis die Mutter zur Familie zurückkehrte, musste Wedel als Landwirt und Zimmermann hart arbeiten. Da es in seiner Familie viele Schnitzer, Tischler und Musiker gab, hatte auch Wedel diese Leidenschaft geerbt und hatte diese, selbst in den härtesten Zeiten, nie losgelassen. Es war eine Schicksalsfügung, als er im Alter von 32 Jahren die Möglichkeit erhielt in Frunse (heute Bischkek) Bildhauerei zu studieren. Seine Skulpturen widmete er dem kirgisischen und deutschen Volk, womit er große Bekanntheit erlangte. Nach seinem Umzug nach Deutschland wurden die Thematiken der sowjetischen Repressionen immer präsenter in seinen Werken. So trug er mit seinen Kunstwerken verstärkt zur Gründung des Museums für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold bei.

Troika – die rote Bande (1992) © Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte/ Inv.Nr.: 0000/18

Die Opfer des Stalinismus waren grenzenlos. Ein Meer aus Verurteilungen, Qualen und Hinrichtungen. Gefordert wurden neue Handlungsweisen, die den Verurteilungsprozess beschleunigen sollten. Die Schuldfrage musste von drei Individuen, der „Troika“, einheitlich bestätigt werden. Die Troika bestand aus einem NKWD-Mitglied, einem Parteimitglied und einem Staatsanwalt. Die Skulptur zeigt das dramatische Verhör eines Ehepaars. Am Kopfende des Tisches beobachtet der Abteilungsführer des NKWD das Geschehen. Seine Waffe liegt unbeaufsichtigt vor ihm – er weiß, dass keiner diese anrühren wird. Der verdächtigte Mann wird von einem Beamten bedroht, seine Frau vom anderen gedemütigt. Sie sind unschuldig und sollen dennoch ein Verbrechen zugeben, welches sie nicht begangen haben. Als Strafe folgte immer die Hinrichtung. In der Ecke thront eine Büste von Stalin – sein Terror ist bei jedem Verhör anwesend.

Arbeiterarmee, in welche zumeist deportierte Russlanddeutsche, aber auch Russen und andere Nationalitäten, einberufen wurden und Zwangsarbeit leisten mussten.

Viktor Hurr (1949-)

Biografie
Die russlanddeutschen Vorfahren von Viktor Hurr waren ansässig im Kaukasus, bis sie nach Kasachstan zwangsumgesiedelt wurden. Seine Eltern lernten sich in einem Arbeitslager in Russland kennen, in dessen Nähe Viktor Hurr geboren wurde. Nach ein paar unruhigen Jahren zog die Familie nach Usbekistan um und lebte dort bis sie nach Deutschland auswanderten. Per Fernstudium machte Hurr eine Ausbildung zum Grafiker, Aquarellmaler, Bildhauer und arbeitete mehrere Jahre als Kunstlehrer. Die Erinnerungen seiner Familie begleiteten ihn, weshalb er diese in Gemälden, Collagen, Zeichnungen und Aquarellen festhielt. Die Motive reichen von Darstellungen des Alltags bis Landschaften. Ein zentrales Hauptthema sind vor allem die tragischen Erlebnisse der älteren russlanddeutschen Generation.

„Deportation im Jahr 1941. Beladung der Eisenbahnwaggons.“ (1995-1997) © Viktor Hurr

Die Eisenbahnwaggons entführten die Menschen in eine ungewisse Zukunft. Die Zwangsumsiedlung war ein drastischer Wendepunkt in der Geschichte der Russlanddeutschen. Die kollektive Bestrafung für den Verdacht der Zusammenarbeit mit dem Dritten Reich besiegelte ihr Schicksal und das der nachfolgenden Generationen. Als sie unter Geleit des Geheimdienstes ihre geliebte Heimat verließen, wussten sie nicht, dass sie nie wieder zurückkehren würden. Die Heimat, die sie jahrhundertelang aufgebaut hatten, wurde ausgelöscht. Die Ziele ihrer Deportation lagen weit im Osten des Landes – entweder Sibirien oder Kasachstan. Auf engstem Raum zusammengedrängt, überlebten manche diese Reise nicht. Familien und Freunde verloren sich für immer. Ihnen blieb keine Heimat mehr, nur noch sie selbst.

Auf Einladung von Zarin Katharina II kamen deutsche Siedler in russische und ukrainische Regionen und gründeten deutsche Dörfer und Städte. Sie behielten die deutsche Sprache und ihre Traditionen mehrere Jahrhunderte bei.

Nikolaij Getman (1917-2004)

Biografie
Seit seinem Kindesalter betrachtete Getman seine Welt durch eigene Zeichnungen und Gemälde. Von der Kunst geleitet, schloss er die Kunsthochschule in Charkiw ab und arbeitete als Künstler im Theater. Dann folgte ein drastischer Einschnitt, als er in die Rote Armee einberufen wurde und im Zweiten Weltkrieg dienen musste. Diese grausamen Jahre überlebte er und wurde kurz danach wegen einer Stalin-Karikatur, die sein Freund gemalt hatte, festgenommen und zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt. In Sibirien und im Fernen Osten behielt er die Erinnerungen an diese Zeit und begann seine Erlebnisse auf der Leinwand festzuhalten. Dies geschah im Geheimen, erst in den 1990ern veröffentlichte er 50 Gemälde, die er in den vorangegangenen 40 Jahren gemalt hatte.

„Brotration für Dubar“ (1989) © Victims of Communism Memorial Foundation

Die Gefangenen der Gulags waren Todgeweihte in Käfigen. Auf kleinsten Raum mussten sie sich eine Baracke teilen. Neben den schwierigen Lebensverhältnissen bekamen sie auch nur eine begrenzte Ration Essen am Tag. Die Not der Gefangenen zwang sie zu einfallsreichen Ideen. Wenn es ihnen gelang den Tod eines Baracken-Nachbarn zu verschleiern, erhielten die anderen eine extra Brotration. Auf dem Gemälde wärmen sich die Gefangenen am Feuer – sie wurden dazu gezwungen halbnackt zum Waschhaus zu laufen und wieder zurück, auch bei eisigen Temperaturen. Jeder von ihnen geht seinen eigenen Sorgen nach – es fällt niemandem auf, dass in der unteren rechten Ecke ein Häftling im Sterben liegt. Der Tod war immer ein präsenter Gast und die Brotration, die der Tote nicht mehr benötigte, war ein Funken Hoffnung für die verbleibenden Gefangenen.

Toter Häftling

Igor Obrosov (1930-2010)

Obrosov wurde schon sehr früh mit den schrecklichen Erfahrungen des stalinistischen Terrors konfrontiert. Sein Vater wurde 1937 wegen provokantem Verhalten verhaftet. Ein Jahr später wurde er zum Tode verurteilt und am selben Tag hingerichtet. Deshalb sind viele seiner Gemälde seinem Vater gewidmet und thematisieren die Geschehnisse der sowjetischen Repressionen. Im Alter von 24 Jahren schloss er die Kunsthochschule in Moskau ab und in den 1950ern erschienen seine Werke auf verschiedenen Ausstellungen. Dank seinem Talent wurde er in die Russischen Akademie der Künste als Mitglied aufgenommen und war Leiter der Union der Künstler der UdSSR. Bis zu seinem Tod war er ein gefragter Künstler, der nicht nur sowjetische sondern auch russische Staatspreise erhielt.

„Die Zombies des Gulags“ (2000er) © Юрий Абрамочкин/РИА «Новости»

Die Tschekisten schleppen einen abgemagerten Mann über das Gelände des Gulags – ob tot oder lebendig lässt sich nicht eindeutig sagen. Wer in die Gulags kam, würde diese nicht immer lebend verlassen. Viele ließen ihr Leben bei der schweren physischen Zwangsarbeit, andere verstarben an Hunger und Willkür. Je nach Lokation des Gulags, waren die klimatischen Umstände eine zusätzliche Belastung, zum Beispiel in Workuta am Polarkreis. Mehrere Millionen Menschen waren inhaftiert, mehrere Millionen erlitten denselben Schmerz und dasselbe Leid. Diese Emotionen finden sich in Obrosovs Malstil – die düsteren Farben und die simplen, aber präzisen Gesichtszüge vermitteln die bedrückte Atmosphäre, die in den Gulags herrschte. Die toten Augen aller Beteiligten spiegeln ein dunkles Kapitel der Geschichte wider.

Umgangssprachlicher Begriff für die Mitarbeiter des Geheimdienstes, angelehnt an den Begriff „Tscheka“, dem ersten sowjetischen Geheimdienst.

Eines der größten und härtesten Arbeitslager, gelegen am nördlichsten Punktes der Komi-Republik am Polarkreis.

Eigenes Gemälde

Lebe! (Olga Bolgov, 2024)

Es gibt eine Erinnerung in meiner Familie, die seit Generationen weitergetragen wird. Meine Urgroßeltern und ihre sechs Kinder wurden aus der Wolgarepublik nach Kasachstan deportiert – mein Opa war mit vier Jahren der Jüngste gewesen. Mein Uropa und sein ältester Sohn wurden in die Trudarmee eingezogen. Mein Gemälde zeigt eine Geste der Selbstlosigkeit – während er selbst am Hungern war, gab mein Uropa seinem Sohn sein letztes Brot und sprach zu ihm: „Lebe!“. Er tat es immer wieder, Tag für Tag. Und verstarb letztendlich an einem Hungertod. Sein Sohn überlebte. Es existieren keine Fotos von meinem Uropa oder seinem ältesten Sohn. Es lebt lediglich die Erinnerung weiter und es war mir wichtig diese als Gemälde für nachfolgende Generationen festzuhalten.