Daniel Leicht
Von der Schwarzmeer-Küste über Dresden bis zum russischen Polarkreis: Eine persönliche Chronik der Deportationen und des Überlebenskampfes der Schwarzmeerdeutschen durch zwei totalitäre Regime
In diesem Projekt möchte ich die doppelte Diktatur- und Deportationserfahrung der Schwarzmeerdeutschen, am Beispiel meiner Familie und insbesondere meiner Urgroßmutter, sichtbar machen. Sie ist in einer deutschen Siedlung unweit von Mykolajiw aufgewachsen. Im Zuge des Zweiten Weltkrieges geriet sie unter deutsche Besatzung und wurde vom Hauptamt Volksdeutsche Mittelstelle unter dem Vorwand “Heim ins Reich” über Polen in den Raum Dresden verschleppt, wo sie eingebürgert wurde. Im Jahre 1946 wurde sie von der sowjetischen Besatzungsbehörde der Kollaboration bezichtigt und nach Archangelsk deportiert, wo sie bis zum Ende der russlanddeutschen Kommandantur verweilen musste. Währenddessen musste mein Urgroßvater Zwangsarbeit in Norilsk verrichten.
Vom Schwarzmeer über Deutschland in den russischen Polarkreis: Die Deportationsodyssey der Schwarzmeerdeutschen
In diesem Projekt möchte ich die doppelte Diktatur- und Deportationserfahrung der Schwarzmeerdeutschen, am Beispiel meiner Familie und insbesondere meiner Urgroßmutter, sichtbar machen. Sie ist in einer deutschen Siedlung unweit von Mykolajiw aufgewachsen. Im Zuge des Zweiten Weltkrieges geriet sie unter deutscher Besatzung und wurde vom Hauptamt Volksdeutsche Mittelstelle unter dem Vorwand “Heim in Reich” über Polen in den Raum Dresden verschleppt, wo man eingebürgert wurde. Im Jahre 1946 wurde sie von der sowjetischen Besatzungsbehörde der Kollaboration bezichtigt und nach Archangelsk deportiert, wo sie auch bis zum Ende der russlanddeutschen Kommandantur verweilen musste. Währenddessen musste mein Urgroßvater Zwangsarbeit in Norilsk verrichtet.
Geschichtlicher Kontext:
Das Schwarzmeergebiet der heutigen Ukraine wurde zwischen 1768 und 1783 nach mehreren Kriegen vom russischen Reich annektiert. Die ersten deutschen Siedler, die auf Einladung des russischen Kaisers Alexander I. kamen, stammten aus dem Südwesten Deutschlands, insbesondere aus Württemberg, Baden, dem Elsass, Lothringen und der Pfalz. Im Jahr 1803 traten sie ihre lange Reise an. Sie starteten in Ulm auf Booten und erreichten zunächst die rumänische Stadt Galatz. Von dort aus setzten sie ihren Weg zu Fuß fort und gelangten schließlich in das Gebiet rund um Odessa. Die Reise dauerte etwa 80 Tage. Die erste Gruppe bestand aus insgesamt neun Transporten mit rund 1100 Personen, von denen etwa die Hälfte Kinder waren. Der 17. Oktober 1803 wird heute als Gründungsdatum der deutschen Kolonien im Schwarzmeergebiet angesehen. Die größte Welle der Auswanderung endete um das Jahr 1810. Im Gegensatz zum kompakten Siedlungsgebiet der Wolgadeutschen erstreckten sich die deutschen Kolonien in der Südukraine von Odessa bis nach Mariupol.
Viele katholischen Siedlungen sind im Zuge der napoleonischen Kriegen entstanden. Die Deutschen die ihr Hab und Gut verloren, haben erst dann die Anwerbung von Alexander I. wahrgenommen.
Wie viele Schwarzmeerdeutsche stammen auch meine Vorfahren überwiegend aus der katholischen Südpfalz und dem heute französischen Unterelsass. Mitte des 18. Jahrhunderts machten sie sich auf den Weg entlang der Donau, um im Kolonistenbezirk Beresan eine neue Heimat zu finden. Sie ließen sich schließlich in der Siedlung Landau nieder, wo sie als Bauern mehrere Generationen lang tief verwurzelt lebten. Ihre Traditionen, ihr Glaube, ihre Sprache und ihre Kultur prägten ihren Alltag.
Meine Urgroßmutter Rosa Glaser wurde 1919 in Landau geboren. Sie besuchte das örtliche Mädchen-Progymnasium und half vor allem ihren Eltern bei der täglichen Arbeit in der Landwirtschaft. 1939 lernte sie meinen Urgroßvater Theodor kennen, und die beiden heirateten in der Stadt Mykolajiw. Dort kam bald darauf meine Großmutter Valentina zur Welt. Ein Jahr später wurde meine Großtante Anna im nahegelegenen Ort Snihurivka geboren.
Im Jahr 1941 begann die Wehrmacht ihren Angriff auf die Sowjetunion, und innerhalb weniger Monate geriet das gesamte Siedlungsgebiet der Schwarzmeerdeutschen unter deutsche Besatzung. 1943 wurde meine Familie aus Snihuriwka auf eine dreitägige Reise nach Litzmannstadt (heute Łódź in Polen) gebracht. Ein Jahr später, 1944, wurden sie in Burgstädt bei Taura eingebürgert. Von dort führte ihr Weg nach Lampertswalde, wo mein Urgroßvater zum Wehrdienst einberufen und nach Greifswald versetzt wurde.
In der Folgezeit wurde die Familie nach Crimmitschau umgesiedelt und schließlich nach Dresden-Neustadt, wo ihnen in der Straße Altpieschen 9, Haus A, eine Wohnung zugewiesen wurde. Anfang 1945 erlebten sie die Bombenangriffe auf Dresden sowie die anschließende sowjetische Militärbesatzung.
Gegen Ende 1945 wurde mein Urgroßvater von der sowjetischen Militäradministration der Kollaboration bezichtigt und zur Zwangsarbeit nach Norilsk in Sibirien verschleppt. Im April 1946 wurde auch der Rest der Familie aus einem Lager in Frankfurt an der Oder in den russischen Polarkreis deportiert, genauer gesagt nach Onega in der Region Archangelsk.
Anders als die meisten Schwarzmeerdeutschen wurde meine Familie nicht zur Germanisierung in das Wartheland im heutigen Polen geschickt, sondern nach Sachsen.
Der Verlust der Sonderrechte der Deutschen begann schon im russischen Reich während des Ersten Weltkrieges. Diese schrittweise Entrechtung hat sich zur Zeit des Großen Ter-rors erweitert und mit dem Einmarsch der Wehrmacht im Sommer 1941 ihren Höhepunkt erreicht. In diesem dunklen Kapitel deutscher Geschichte haben auch Deutsche im Schwarzmeergebiet kollaboriert.
Der SS-Gruppenführer Otto Ohlendorf, der sich mit der von ihm geführten Einsatzgruppe Süd in dem Gebiet befand, nahm Kontakt zu Schwarzmeerdeutschen auf. Er organisierte unter ihnen den bewaffneten Selbstschutz in einer Stärke von ungefähr 7000 Mann, der der Volksdeutschen Mittelstelle unterstand. Anfang 1942 deportierte die rumänische Gendar-merie nach dem Massaker von Odessa mehrere zehntausend Personen der jüdischen Bevölkerung aus Odessa. Die genaue Zahl der Tötungen ist nicht bekannt. Aus einer Notiz des Auswärtigen Amtes geht hervor, dass im Winter 1941/42 rund 28.000 Juden in deut-sche Dörfer gebracht und ermordet wurden.
Im KZ Bogdanowka erschossen und verbrannten Angehörige des Selbstschutzes sowie der Volksdeutschen Mittelstelle über mehrere Wochen die Deportierten. Den deutschen und rumänischen Truppen folgte die SS-Einsatzgruppe D, die im Rahmen ihrer Aufgabe „Frei-machung bearbeiteter Gebiete von Juden, Kommunisten und Partisanengruppen“ bis zum Frühjahr 1942 etwa 100.000 Menschen, unter ihnen auch „volksdeutsche“ Kommunisten, ermordete. Zu ihrem Auftrag gehörten auch „Schutz und Betreuung volksdeutscher Sied-lungen“. Nach dem Abzug der Einsatzgruppe wurden diese der Aufsicht der „Volksdeut-schen Mittelstelle“ der SS und ihres „Sonderkommandos Russland“ unterstellt. Die Besat-zungsbehörden erfüllten jedoch nicht den Wunsch der deutschen wie auch der ukrainischen Landbevölkerung, die Kolchosen aufzulösen. Ende 1941 begannen die SS-Dienststellen, die Deutschen in „volksdeutsche Bereiche“ umzusiedeln. Diese „Aufbauarbeit“ dauerte je-doch nur so lange, bis den deutschen Siedlungsgebieten die Wiedereroberung durch die sowjetische Armee drohte. Die deutschen Bauern stellten Trecks zusammen, mit denen rund 300.000 Personen ins „Altreich“, in den Reichsgau Wartheland und das Generalgou-vernement gelangten, wo sie von der sowjetischen Armee überrollt wurden. Nach Kriegs-ende wurden etwa 140.000 Sowjet-, meist also Schwarzmeerdeutsche aus allen Besat-zungszonen Deutschlands in die Sowjetunion “repatriiert”. Wie die Deportierten des Jahres 1941 haben auch viele dieser Zwangsrepatriierten das Leben als „Sondersiedler“ in den Lagern nicht überlebt. Keine antideutsche Maßnahme in irgendeinem Staat Ostmitteleuro-pas der Zwischenkriegszeit ist nur im Entferntesten mit der Unterdrückung und dem Terror im Sowjetstaat zu vergleichen. Seit der nationalsozialistischen Machtergreifung war das Schicksal der russischsprachigen Deutschen noch schlimmer als das Los der übrigen Nati-onalitäten der Sowjetunion: Das GPU und seine Nachfolgeorganisation durchkämmten die deutschen Dörfer nach potentiellen „Faschisten“, sodass zahlreiche deutsche Familien ihre arbeitsfähigen männlichen Mitglieder verloren. Wer es geschafft hatte, die Ukraine bis 1928 zu verlassen, konnte sich glücklich schätzen. Die meisten der zurückgebliebenen Schwarzmeerdeutschen und ihrer Nachkommen verließen ihre Verbannungsorte in Sibirien, Kasachstan und Zentralasien und reisten seit den späten 1970er Jahren in die Bundesrepublik Deutschland aus.
Nach dem Ende der russlanddeutschen Kommandantur oder wie es meine Oma in ihrer Biographie beschrieben hat: “1956 waren wir dann frei” durften sie nach dem Erlass endlich ihren Verbannungsort verlassen. Mein Urgroßvater, der 10 Jahre in Norilsk Zwangsarbeit verrichten musste, hat auch wieder zu seiner Familie gefunden. Ihnen war es aber verwehrt zurück in die Ukraine zu ziehen und vor allem nicht nach Deutschland auszuwandern. Aus leider mir nicht mehr nachzuvollziehenden Gründen sind sie dann gemeinsam nach Yangiyo’l, Usbekistan gezogen, dass unweit von der Hauptstadt Tashkent liegt. Dort hat meine Urgroßmutter auch ihren Großteil ihres Lebens verbracht und als Buchhalterin in einer Ziegelfabrik gearbeitet. Nachdem Zerfall der Sowjetunion kam, wie sie beschrieben hat, ein regelrechter Fiebertraum, wo so gut wie alle Deutschen in ihrer Umgebung sich bereit gemacht haben nach Deutschland zu remigrieren. Sommer 1991 war es dann soweit und sie zog mit ihrer Familie nach Deutschland und hat auch bis zum Ende im selben Dorf gelebt wo ich aufgewachsen bin.
Heute bereue ich es zutiefst, dass ich als Kind nicht die Geduld oder das Interesse hatte, meiner Uroma zuzuhören, wenn sie von ihrem Leben erzählte. Damals war ich zu jung, um zu verstehen, welche Bedeutung ihre Worte trugen, wie kostbar ihre Geschichte war. Sie ist schon über 10 Jahre nicht mehr unter uns, und nun, wo ich älter bin, würde ich so gerne ihre Erinnerungen hören, ihre Erlebnisse begreifen. Ich wünschte, ich hätte damals schon gewusst, wie wertvoll diese Momente waren. Jetzt, da ich mich für ihre Reise – ihre Deportation nach Russland und den Weg zurück – interessiere, fühle ich die Lücke, die bleibt, weil ich ihr nie zugehört habe.
Wenn ich die Zeit zurück drehen könnte, würde ich meiner Uroma mit angehaltenem Atem lauschen, ihre Eindrücke, um ihre Freude und ihr Leid, das sie in Ihrem ereignisreichem Leben erfahren hat, festzuhalten. Ich würde dafür Sorge tragen, dass die Geschichte von einer starken jungen Frau mit zwei kleinen Kindern, fernab von zu Hause, die allein ihr Leben meistern musste, in unserer Erinnerung nicht verblasst.