Wena Wolf
Wena Wolfs Essay untersucht die komplexe Beziehung zwischen offiziellen und persönlichen Gedenktagen in der russlanddeutschen Community und beleuchtet, wie diese Tage Identität und Erinnerungskultur prägen.
Wena Wolf analysiert in ihrem Essay die Rolle von Gedenktagen in der Erinnerungskultur der Russlanddeutschen. Sie beleuchtet die Bedeutung von offiziellen Gedenktagen und persönlichen Erinnerungen, insbesondere des 28. August als den zentralen Gedenktag der Russlanddeutschen und des 9. Mai, des offiziellen Tag des Sieges der Sowjetunion über Nazideutschland. Sie untersucht deren Einfluss auf die individuelle und kollektive Identität der Russlanddeutschen. Durch ein Interview mit dem Osteuropahistoriker Dmitri Stratievski vertieft sie die Frage, wann woran erinnert wird und welche Schlüsse daraus gezogen werden können.
Gedenktage als Identitätsmarker: Der Gedenkkalender in der russlanddeutschen Community
Gedenktage sind zentrale Elemente der Erinnerungskultur eines Landes. Sie stabilisieren die Erinnerung an bestimmte Ereignisse und gruppenbezogene Erfahrungen, sodass diese trotz Generationenwechsel und schwindendem persönlichen Bezug über lange Zeit erhalten bleiben. Indem gemeinsame Erinnerungen wachgehalten werden, stärken Gedenktage außerdem das Identitäts- und Zusammengehörigkeitsgefühl einer Gruppe. Gleichzeitig bietet der jährlich wiederkehrende Erinnerungsimpuls die Möglichkeit, das eigene Gedenken zu reflektieren.
In einer inklusiven Erinnerungskultur innerhalb einer Migrationsgesellschaft sollten verschiedene Perspektiven und Narrative berücksichtigt werden. Gedenktage können dabei eine wichtige Rolle spielen, indem sie der Geschichte und den Erfahrungen von Migrant:innen und ihren Nachkommen Sichtbarkeit verleihen und diese als selbstverständlichen Teil der deutschen Geschichte und Gegenwart anerkennen.
In Hinblick auf die russlanddeutsche Community fallen im Gedenkkalender zwei Daten ins Auge: der 28. August als zentraler Gedenktag der Russlanddeutschen, sowie der 9. Mai als ursprünglich sowjetischer Feiertag. Bei letzterem handelt es sich um den Tag des Sieges, der in Russland und einigen anderen Nachfolgestaaten nach wie vor von Bedeutung ist.
Der „Tag des Sieges“ entwickelte sich seit den 1960er Jahren sukzessive zu einem der wichtigsten Feiertage in der Sowjetunion und stellte bis zu deren Auflösung den zentralen Bestandteil der Erinnerungspolitik dar. Im Vordergrund stand die heroische Inszenierung des Sieges im „Großen Vaterländischen Krieg“ und die Ehrung der Veteranen. Unter Putin wird diese Tradition fortgesetzt, eine historische Aufarbeitung findet dabei nicht statt. Indem die russische Propaganda die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg instrumentalisiert, um den Krieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen, bekommt der 9. Mai eine neue Bedeutungsebene
Der „Tag der Russlanddeutschen“ besteht in Deutschland seit 1982 und beruft sich auf den Stalin-Erlass vom 28. August 1941, der die Umsiedlung der im Wolgagebiet ansässigen Deutschen veranlasste und insgesamt zur Deportation von rund 900.000 Russlanddeutschen aus ihren Siedlungsgebieten nach Sibirien und Zentralasien führte. Das Datum steht stellvertretend für die Repressionen, die Russlanddeutsche in der Sowjetunion erlebt haben. Die Sichtbarkeit des 28. August in der gesamtdeutschen Wahrnehmung ist eher bescheiden, und eine Umfrage unter zufällig ausgewählten Personen würde wahrscheinlich ergeben, dass kaum jemand von diesem Gedenktag gehört hat – geschweige denn von seiner Bedeutung.
Meldungen zum Jahrestag konzentrieren sich hauptsächlich auf Pressemitteilungen offizieller Regierungskanäle, vereinzelte regionale Zeitungen sowie die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland (LmDR) und Aussiedlervereine, welche mitunter auch Gedenkveranstaltungen organisieren. Runden Jahrestagen wird dabei insgesamt eine etwas größere mediale Aufmerksamkeit geschenkt. Darüber hinaus findet das Thema in großen allgemeinen Zeitungen und Kanälen kaum Beachtung. In der fehlenden Abbildung und Thematisierung in der deutschen Medienlandschaft sieht Dmitri Stratievski einen wichtigen Grund, warum der Gedenktag auch innerhalb der Community wenig Aufmerksamkeit erfährt. Viele, vor allem junge Russlanddeutsche, würden diesen Tag schlicht gar nicht kennen.
Dr. Dmitri Stratievski ist Historiker und Politologe mit Sitz in Berlin. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Netzwerk Osteuropa der Max-Weber-Stiftung und ist Vorsitzender des Osteuropa Zentrums in Berlin. Unter anderem hat er zu Identitäten und Erinnerungspraktiken von Russlanddeutschen geforscht. Für diesen Text wurde ein Interview mit ihm geführt
Unabhängig von der medialen Repräsentanz hängt das Interesse am 28. August auch davon ab, wie generell in der Familie mit den traumatischen Erfahrungen in der Sowjetunion umgegangen wird. In vielen Fällen wird das Thema nur flüchtig behandelt, was, insbesondere bei der jüngeren Generation, zu einem begrenzten Verständnis der eigenen Familiengeschichte sowie dessen Einordnung in die russlanddeutsche Kollektivgeschichte bedeutet. Viele würden sich mit oberflächlichen Informationen zufriedengeben oder empfänden, so Stratievski kein Bedürfnis, sich eingehender mit diesen Themen zu beschäftigen. Darüber hinaus können Gedenktage verdrängte Traumata reaktivieren und überwältigende Emotionen hervorrufen. In der Vermeidung solcher Konfrontationen sieht Stratievski eine weitere Erklärung für das mangelnde Interesse an diesem Gedenkanlass, da Menschen sich oft bewusst oder unbewusst vor emotionaler Überforderung schützen.
Das mehrheitlich eher geringe Interesse innerhalb der Community und die mangelnde Beachtung dieses Datums in der breiten Öffentlichkeit bedingen sich schlussendlich vermutlich gegenseitig. Trotzdem gibt es einige Impulse „von innen“ heraus, wie beispielsweise Ostklick, die u.a. auf Instagram versuchen, den Gedenktag und die damit verbundenen Erinnerungen präsenter zu machen.
Mitunter verstärkt werden kann die Wirkung von Jahrestagen im Zusammenspiel mit physischen Erinnerungsorten. So dienen Denkmäler häufig als Veranstaltungsorte für z.B. Kranzniederlegungen und indem diese Orte mit Bildern offizieller und privater Gedenkpraktiken verknüpft werden, verankert sich das Datum stärker im kollektiven Gedächtnis. Das Potential für einen solchen Ort bietet der Gedenkstein für die Vertreibung der Russlanddeutschen in Berlin-Marzahn, der 2001 auf Initiative eines Aussiedlervereins errichtet wurde. Hier finden jährlich zum 28. August offizielle Gedenkveranstaltungen statt, an denen neben Nachfahr:innen und Mitgliedern russlanddeutscher Organisationen auch Vertreter:innen aus der Politik teilnehmen. Ein ähnlicher Ort ist das zentrale Denkmal für Flucht und Vertreibung in Nürnberg, wo beispielsweise die LmDR regelmäßig Gedenkveranstaltungen zum 28. August abhält.
Mit dem Befreiungsdenkmal im Treptower Park existiert ein unweit monumentaleres Denkmal, an dem sich die Wechselwirkung von Gedenktagen und Denkmälern kristallisiert.
Das sowjetische Ehrenmal im Treptower Park in Berlin war ein zentraler Erinnerungsort der DDR, an dem an verschiedenen Jahrestagen durch ritualisierte Gedenkveranstaltungen das antifaschistische Selbstverständnis des Staates und die Verbundenheit zur Sowjetunion inszeniert wurden. Die Statue des Befreiers erlangte auch über die DDR hinaus symbolische Bedeutung, indem sie auf Postkarten, Briefmarken und in Schulbüchern abgebildet wurde und so im Zusammenhang mit dem 9. Mai und dem Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ im sowjetischen kollektiven Gedächtnis verankert ist. Heute hat das Denkmal u.a. für manche Menschen mit verschiedenen Bezügen zur ehemaligen Sowjetunion weiterhin Bedeutung und wird vorrangig am 8./9. Mai Schauplatz für teils fragwürdige Gedenkpraktiken und politische Einstellungen
Diese historisch gewachsene Verbindung erklärt mitunter den symbolischen Wert und die anhaltende Nutzung des Denkmals am 9. Mai durch verschiedene Gruppen. Russlanddeutsche würden hierbei, so Stratievski, nur einen Bruchteil der feiernden Gesamtmenge bilden, die sich u.a. aus Russischsprachigen und Menschen mit unterschiedlicher Herkunft der ehemaligen Sowjetunion zusammensetzt.
Dennoch ist dieser aus der Sowjetunion übernommene Feiertag für einen Teil der Russlanddeutschen weiterhin von Bedeutung. Vor dem Hintergrund der Repressionserfahrungen, insbesondere während des Zweiten Weltkriegs, scheinen diese mit einem aktiven Feiern des 9. Mais auf den ersten Blick widersprüchlich. Eine mögliche Erklärung für dieses Paradoxon sieht Stratievski darin, dass manche Russlanddeutsche eine gewisse Trennlinie ziehen: Sie bewerten den Sieg über NS-Deutschland positiv und erkennen an, dass dieser für viele Teile Europas die Befreiung vom Faschismus bedeutete, auch wenn die Zeit in der persönlichen Familiengeschichte mit Vertreibung und Entrechtung verknüpft ist. Einerseits verurteilen sie Stalins Verbrechen und die Sowjetunion, teilweise aufs schärfste, als Unrechtstaat, andererseits, verstehen sie das historische Ereignis des Sieges und den Feiertag als eine Art Bindeglied zu anderen Menschen sowie zu ihrer alten Heimat. Nostalgie spielt hierbei also ebenfalls eine Rolle und der Tag bietet einen Anlass im Privaten mit anderen zusammen zu kommen.
Zu erwähnen seien in diesem Zusammenhang auch die Auswirkungen des 24. Februar 2022, der in vielen Fällen zu einem Umdenken geführt hat. Auch wenn der Kampf gegen NS Deutschland und der russische Angriff auf die Ukraine zwei unterschiedliche politische Ereignisse sind, führen Russlands Krieg sowie die russische Instrumentalisierung der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zu einer Reflektion der eigenen Erinnerungspraxis: Beispielsweise würden manche, so Stratievski, den 9. Mai zwar weiterhin feiern, allerdings nicht mehr wie vormals im Treptower Park, sondern stattdessen zu Hause. In Anbetracht der Präsenz des russischen Fernsehens beim Event, wollen Menschen nicht als Kompars:innen für russische Propaganda missbraucht werden und ziehen sich deshalb für ihre Feierlichkeiten ins Private zurück.
Stratievski erklärt, dass die individuelle Beziehung zum 9. Mai auch eng mit der Identität als Russlanddeutsche zusammenhängt. Als Ausgangspunkt spiele die persönliche Sozialisation und damit zusammenhängende Identifikation eine entscheidende Rolle: Während sich viele primär als Deutsche oder in der Sowjetunion geborene Deutsche fühlen, gibt es auch jene, die sich als „Russaki“ bezeichnen oder eher zum großen kulturellen Kreis der Russlandstämmigen bekennen. Diese Identitätsbildung beeinflusst auch die Wahrnehmung und Bedeutung des 9. Mai: Für einige ist es ein wichtiger Gedenktag, der auf verschiedene Art und Weise privat oder öffentlich begangen wird, während andere aufgrund ihrer Familiengeschichte und der Erfahrungen in der Sowjetunion dem Datum gegenüber eine ambivalente Haltung haben oder diesen gänzlich ablehnen.
Im Gegensatz zum 28. August, ist die jährliche Berichterstattung zum 9. Mai in Deutschland umfangreicher. Allerdings zeigt sich in der medialen Darstellung oft eine Tendenz zur Vereinfachung und Verallgemeinerung, die der Komplexität des Themas nicht gerecht wird. Der Fokus liegt häufig auf den Feierlichkeiten an sowjetischen Ehrenmalen in Berlin, wobei die Berichterstattung dazu neigt, verschiedene russischsprachige Gruppen undifferenziert zu betrachten. Diese einseitige Darstellung wird der Vielfalt der Perspektiven innerhalb der russlanddeutschen Community kaum gerecht und unterschlägt, dass es sich dabei um keine homogene Gruppe handelt.
Ein Anlass, der hingegen gruppenübergreifend relevant ist und in vielen Fällen aktiv erinnert wird, ist die Auswanderung nach Deutschland. Diese stelle, so Stratievski, für jede:n eine wichtige Zäsur dar, welche unabhängig von anderen Identifikationen, das Leben entscheidend geprägt hat. Für viele sei dieses Datum greifbarer und bedeutender als andere Ereignisse aus der Vergangenheit, weshalb häufig das Datum der Einreise nach Deutschland präsent im privaten Gedenkkalender ist. Besondere Aufmerksamkeit erhalten auch hier runde Jubiläen und es werden z.B. „30 Jahre Deutschland“ im größeren Familienkreis gefeiert. Dass solche Ereignisse eine bedeutende Rolle für viele Russlanddeutsche spielen, ist ein Phänomen, dass Stratievski auch aus anderen Communities kennt. Und auch wenn diese individuellen Anlässe nicht direkt mit offiziellen Gedenk- und Feiertagen vergleichbar sind, lohnt es sich dennoch, sie in die Gesamtbetrachtung miteinzubeziehen.
Die Vielfalt der Gedenkpraktiken und die unterschiedlichen Resonanzen auf Gedenktage bilden ein breites Spektrum und sagen viel über das individuelle und kollektive Identitätsgefühl von Russlanddeutschen aus. Die (Nicht-)Identifikation mit bestimmten Gedenktagen ist stark geprägt von persönlicher Sozialisation, Erfahrungen und Selbstwahrnehmung. Diese Diversität spiegelt die Komplexität russlanddeutscher Identität(en) wider und zeigt beispielhaft wie multiple und sich wandelnde Identitäten in einer Gemeinschaft zum Ausdruck kommen.
Auch wenn Gedenktage allein weder eine Lösung noch ein Garant für gesellschaftliches Bewusstsein sind, können sie dennoch dazu beitragen historische Ereignisse im kollektiven Gedächtnis zu verankern und Auseinandersetzung mit der eigene Geschichte und Identität anzuregen.
Referenzen:
Aleida Assmann: Jahrestage – Denkmäler in der Zeit. In: Paul Münch (Hg.): Jubiläum, Jubiläum… Zur Geschichte öffentlicher und privater Erinnerung. Essen 2005, S. 305-314